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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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Pflegeheim bleiben wird. Es geht mir nicht schlecht, sagt er, ich habe hier Unterhaltung, du musst dir keine Sorgen machen. Das Mädchen nickt und weint trotzdem. Kindchen, sagt er, du musst hinaus ins Leben! Sonst mache ich mir Sorgen. Du bist so gescheit, du musst was draus machen. Sie umarmt ihren Großvater sehr lange, streichelt sein schlohweißes Haar auf dem knochigen Kopf; sie reibt ihm die Beine mit Franzbranntwein ein, damit sie besser durchblutet werden, er hat es früher selbst immer gemacht. An seiner Hand hat sie das Laufen gelernt, ist sie so viele Male spazieren gegangen, in seinem Garten hat sie in der Erde gewühlt, süße Schoten gegessen und an Rosen gerochen, zu ihm ist sie ins Bett gekrochen, wenn ein Gewitter kam und die Eltern im Restaurant noch arbeiten mussten. Bei ihm lernte sie Zärtlichkeit und Freiheit.
    Sie packt ihre Sachen und geht nach Paris, als Au-pair. Für ein Jahr.
    Lieber Herr,
    schreibt sie,
    ich melde mich, wenn ich wiederkomme.
    Ihre Helen

II.
    Madame Pompadour in München

Ein guter Philosoph kann jederzeit auch ein guter Bankier werden. Stendhal
    1
    Die Aufregungen nach dem Erscheinen von Jonathan Keplers Artikel flauten nach ein paar Wochen wieder ab. Pia, mit der ich ein paar Mal telefoniert hatte, hatte sich nicht erfreut gezeigt, über meine » mediale Präsenz«, wie sie es nannte. Ein Erinnerungsbuch über Julius lehnte sie ab. » Julius ist fünfzehn Jahre tot, Helen. Was soll es uns bringen?«
    Als ich wieder zu mir kam, nahm ich das Päckchen mit meinen Briefen in Ruhe in die Hand. Ohne sie genau zu lesen, sortierte ich sie nach dem Datum, schrieb es mit einem Stichwort dazu auf gelbe Post-its und klebte sie darauf. Den einen oder anderen Brief überflog ich, erinnerte mich an einige der Themen, grübelte, doch dann packte ich alle in einen großen Umschlag und verstaute sie in der Schublade meiner Kommode. Es sollte noch eine ganze Weile dauern, bevor ich sie wirklich las, drei Jahre fast, bis ich anfing, sie zeitlich in meinem Gedächtnis einzureihen, in die historischen wie in die gelebten Ereignisse, die Augenblicke, in denen sie entstanden waren, und als wollte ich gegen die zerstörte Limousine, die in allen Zeitungen noch einmal abgebildet worden war, als wollte ich gegen dieses Bild des Todes angehen, auf den hin sich für die meisten deine Geschichte aufzuspannen schien, drängten in mir die Erinnerungen an sonnige Tage hoch, dein Lachen, wenn du mir gegenüber saßt, oder am Telefon; ich sah mich bei geöffnetem Fenster in München sitzen, wo ich nach meinem Parisaufenthalt das Studium angefangen hatte, den Hörer am Ohr, draußen zwitscherten Vögel.
    Zunächst mochte ich nicht gern an die denken, die ich damals gewesen war, um so vieles unglücklicher als jetzt, unendlich weit entfernt, mit einer überdimensionierten Sonnenbrille auf der Nase, weil die Augen weh taten, von den Kopfschmerzen, vom Föhn; und mit dem Gefühl, ohne rechte Orientierung zu sein, das mich mit meinen besten Freundinnen verband, Sabrina und Antje-Doreen, die sich ebenso schwer im Leben taten, wie sie ehrgeizig im Studium waren. Ich sah uns immer wie drei, die sich im Kreis an den Händen halten, um sich daran zu hindern, nach hinten umzufallen –
    doch von einem Tag auf den anderen schlug diese ganze schräge Zeit von damals in eine Komödie um, in der ich mitgespielt hatte und von der du, Julius, ein Teil gewesen bist. Ich weiß nicht genau, wie dieser Umschlag zustandekam, es gab da einen Ton, einen ersten Satz, ein Bild, und alles verwandelte sich. Ich drehte mein Unwissen und mein Ungeschick einfach um, in eine Naivität, wie Diderot und Voltaire sie verstanden haben, eine kindliche Einfalt, die das Staunen als Waffe und Weg nutzt, um mit lauter Gemeinheiten zurechtzukommen. Auch wenn mir manche der Beteiligten plastischer vor Augen standen als du – ich hatte sie fast täglich gesehen und dich nur selten –, war es, als hätte sich dein unbeschwertes Wesen in meine Erinnerungen geschlichen und sie gefiltert und umsortiert, um in meiner Welt Parallelen zu der Welt aufzudecken, in der du dich bewegt hattest: die Welt der Macht- und Planspiele, der geschickten Schachzüge und Strategien, von der du mir hin und wieder berichtet hattest. » Ich wünschte, du würdest mal Mäuschen bei uns spielen und mir hinterher sagen, was du denkst.«
    Der Ton schlug um, und ich fing an, unsere Geschichte nicht mehr den Journalisten zu erzählen, die nach Jonathan Kepler vor mir saßen

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