Der Tag ist hell, ich schreibe dir
Bankier sie vergessen haben sollte. Dieser hatte sich sofort gemeldet, und zwei Tage später hatte Helen die Halle des einen Turms, mit der glänzenden Glasfassade außen und großformatigen modernen Gemälden an den holzgetäfelten Wänden innen, durchquert und war etwas eingeschüchtert im zwanzigsten Stockwerk angekommen. Frau Osthaus hatte sie unten abgeholt, Julius Turnsecks persönliche Sekretärin. Sie war eine schlanke Frau mittleren Alters, die ein graues Kostüm mit einer cremefarbenen Bluse trug, die am Hals zu einer Schleife gebunden war, und sich sehr gerade hielt. Ihr braunes Haar umrahmte ein freundliches, aufmerksames Gesicht mit braunen Augen, die vermutlich selten Persönliches verrieten. Frau Osthaus war auf Helen zugeeilt und hatte ihr die Hand geschüttelt, » Wie schön, Sie kennenzulernen« gerufen und sie zum Fahrstuhl geführt, in dem sie gleich fragte, ob Helen Herrn Dr. Turnseck denn jetzt wieder schreiben werde, er habe sich doch immer so über ihre Post gefreut und sie im vergangenen Jahr schmerzlich vermisst.
Oben angekommen, hatte Frau Osthaus Helen durch einen hell gestrichenen, großzügigen Gang zu Julius Turnsecks Büro gebracht, und so hatten sie sich wiedergetroffen, fast so, wie zwei alte Freunde es tun. Julius Turnseck hatte Helen umarmt, als hätten sie sich erst letzte Woche gesehen und nicht vor mehr als einem Jahr, und dann hatten sie sich in Eile alles erzählt, was in ihrem Jahr der Trennung geschehen war. Helen hatte kaum Gelegenheit gehabt, den riesigen Raum mit dem sehr großen Schreibtisch und der beeindruckenden Fensterfront zu besichtigen, so sehr waren die beiden ins Gespräch vertieft. Das Schwebende, Fragende, was sich zuletzt zwischen ihnen ereignet hatte, war einer gänzlich neuen Grundstimmung gewichen; sie war aufgeräumt, klar und von einer leichten Zärtlichkeit durchzogen.
» Wie ist das so, von hier oben auf die Welt zu sehen?«, hatte Helen gefragt, und Julius Turnseck hatte geantwortet: » Ein Bankier darf nie die Herrschaft über sich selbst und das Geld verlieren. Wenn er es jemals zulässt, also dass das Geld oder die Macht von ihm Besitz ergreifen, wird er alles verlieren. Beide, das Geld und die Macht, haben nur einen Sinn, wenn sie anderen dienen. Sie müssen von einer übergeordneten Idee gelenkt werden.«
» Und die wäre?«
Julius Turnseck hatte aus dem Fenster gesehen, gezögert, sich dann zu ihr gewandt. » Es klingt vielleicht ein bisschen pathetisch, oder altmodisch, aber so empfinde ich nun einmal: Ich möchte, dass es den Menschen in diesem Land gut geht. Und dass unser Land in der Welt geachtet wird.«
3 Spaziergang im Park
Helen versuchte, aus den Kursangeboten an der Universität schlau zu werden, und belegte folgende Grundkurse in Philosophie: einen, der sich mit Nietzsche, sowie einen, der sich mit Aristoteles befasste, und einen, der sich interdisziplinär mit dem Bild des Menschen in den modernen Wissenschaften auseinandersetzte. Sie entschied sich für eine Vorlesung über Hegel und eine über Wittgenstein. In den Politikwissenschaften war es einfacher, denn die Grundkurse in praktischer und theoretischer Politik waren vorgegeben. Helen sollte Begriffe der Innen- und Außenpolitik erlernen sowie die Klassiker der Politischen Theorie studieren, von Platon über Hobbes zu Max Weber, Marx und Lenin.
Sie zog in ein Zimmer unterm Dach in einer Wohngemeinschaft im alten Stadtteil Haidhausen. Sie legte es mit einem altrosa Teppich aus, kaufte eine Holzplatte mit zwei Böcken, einen weiß lackierten Schrank vom Flohmarkt und eine Matratze, über die sie ihre blaue Tagesdecke aus Paris warf. Sie erstand ein Fahrrad bei einem alten Herrn, der damit durch den Krieg gekommen war, und radelte fast täglich am Maximilianeum und dem Englischen Garten vorbei zur Universität oder in die Stadt.
Julius Turnseck rief an und erkundigte sich nach allem, und schon bald nahmen die beiden ihren schönen Rhythmus von Briefen und Telefonaten wieder auf. Helen sah aus ihrem schrägen Fenster hinaus über die glänzenden Dächer im Regen oder Sonnenschein und drehte die Schnur des Telefons um ihre Finger und erzählte von ihren Mitbewohnern, dem Theatercafé um die Ecke, in dem sie am Wochenende kellnerte, oder ihrer neuen Freundin, Antje-Doreen. Und obwohl der Bankier nicht im Mittelpunkt von Helens Studentinnenleben stand, wurde er doch ein fester Bestandteil ihrer Welt, vielleicht ein bisschen so, wie es der Mond für uns Erdenbewohner ist,
Weitere Kostenlose Bücher