Der Tag ist hell, ich schreibe dir
beiden Vorgängen, den Menschen zum Repräsentanten zu machen und ihn zu ermorden, lagen für mich ungeheure, kaum zu fassende Abstraktionsvorgänge. Die äußerste Abstraktion war die Ermordung. Es war keineswegs so, dass ich Dinge über dich erfahren hätte, die ich nicht gewusst hätte; es war nur die Art der Zusammenstellung, der Zuspitzung auf eine These, die Ausstrahlung, die für mich so befremdlich war. Ich hatte tagelang einen Stein im Magen. Erst im Zuge meiner nachträglichen Befragung wurde mir irgendwann klar, dass in diesem Stein im Magen auch der noch unverdaute Schock über die Gewalt deines Todes steckte.
10
» Es tut mir entsetzlich leid«, sagte Julius. » Sie sind noch so jung, da vergeht die Zeit ganz anders. Ihnen kommen fünf Wochen wie eine Ewigkeit vor, nicht wahr?«
Fünf Wochen sind vergangen; fünf endlose Wochen, in denen Helen ihr Abitur macht und sich in den verbleibenden Stunden in der Schule langweilt und sich an den Nachmittagen zwingt, nicht auf einen Anruf zu warten, der ganz selten einmal kommt, und sich an den Abenden mit ihrem Erdbeerfreund trifft und mit seinem Freund Jojo schläft.
Julius und Helen sitzen im Hotel in Frankfurt und halten sich an den Händen, einen Moment lang, und dann sprechen sie miteinander, über den Philosophen Karl Jaspers, den er gerade liest, und Kierkegaard, mit dem sie sich beschäftigt. Über die neuen Ost-West-Gespräche. Sie möchte es so gern wieder strömen lassen, doch etwas hindert sie daran, unterbricht den Fluss, lässt ihn stolpern, und das, obwohl das Gespräch äußerlich intensiv verläuft. Sie spürt, wie er sie ansieht. Sie betrachtet heimlich seine Hände. Sie will ihm nicht sagen, dass sie sich mit Jojo einige Male getroffen hat. Dass sie – Trennungen einer solchen Art, von ihm, wochenlang, nicht so gut verträgt.
Der Existenzialismus ist ein Lebensgefühl, das kein Morgen kennt, kein Leben nach dem Tod, es kommt von der Erfahrung des Krieges. Und das Prinzip Hoffnung, wie Ernst Bloch es denkt, nimmt doch dasselbe Gefühl zum Ausgang, und es lehrt, wie Lebenskraft und Fantasie und intellektuelle Kraft uns vorantreiben, und beide Philosophien schließen einander nicht aus. Faust durchwandert die Welt, er betritt Stufen, auf jeder neuen beginnt er neu. Verweile doch, du bist so schön, das würde Faust so gern einmal sagen, zum Augenblick, auf den hin er lebt. Camus’ Meursault sagt: Du bist der Augenblick, bis der nächste kommt. Beide erleben ihre Momente des Entäußert-Seins und des In-der-Welt-Seins.
Sie telefonieren, nach diesem Treffen fast täglich, Julius kommt wieder nach Frankfurt, sie verabreden sich erneut. Das Mädchen hat ihre Scheu, die durch die lange Unterbrechung entstanden war, über Bord geworfen. Am Telefon sagen sie einander, wie sehr sie sich freuen. Sie steht am Morgen früh auf und streift über eine alte, überwucherte Müllhalde in der Nähe ihres Elternhauses und bricht Fliederzweige für ihn ab. Sie zieht einen kurzen pinkfarbenen Rock an und rote Strümpfe dazu. Sie singt wieder, nicht ganz so laut, damit es keiner merkt, und in der Schule nur ganz innen.
Als sie aus der Schule kommt, sagt ihre Mutter: » Du musst uns heute Abend helfen. Eine Kraft ist ausgefallen, es kommen achtzig Leute, ich brauche dich hier. Ich habe niemanden finden können, der einspringt.«
Das Mädchen wird sehr bleich.
» Mama«, sagt sie.
» Es geht nicht anders«, sagt ihre Mutter, » es tut mir leid, Helen.«
Sie muss absagen. Sie wählt die Nummer der Bank, spricht mit der Sekretärin, wird durchgestellt. Sie steht im Restaurant, das Telefon steht in der Bar, die sich zum Saal hin öffnet, sie dreht sich mit dem Rücken zum Saal.
» Ich habe Sie wirklich sehr gern«, sagt er, nach kurzem Schweigen. » Sie müssen das wissen.«
Sie glaubt es, sie erkennt, dass es wahr ist, an seiner Stimme erkennt sie es sofort, » ich muss so oft an Sie denken«, sagt er. Sie schließt die Augen an ihrem Ende.
» Was soll ich machen?«, fragt sie, kaum hörbar.
» Sie müssen Ihren Eltern helfen«, sagt er.
» Wann sind Sie wieder hier?«
» Bald.«
Bald ist weit fort. Mata Hari bekommt ihr Zeugnis und fährt nach Italien, mit Zelt und Rucksack. Sie fährt nach Florenz und Rom und läuft durch die Straßen und sieht sich alles an, alle Bilder und Skulpturen in sämtlichen Kirchen und Museen. Sie kommt noch einmal zu ihren Eltern zurück, spricht lange mit ihrem Großvater, der wieder munter und auf den Beinen ist, aber im
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