Der Tag ist hell, ich schreibe dir
etliche der Jungen in der Schule; der Weg nach Ostpreußen ist zu gefährlich, der nach Hamburg oder ins Ruhrgebiet ebenso. Manche werden von bayerischen Schulkameraden eingeladen, die Ferien bei ihren Familien zu verbringen. Julius darf mit Luis nach Tirol mitfahren.
Luis A., der Helen später, als sie ihm einen Brief schreibt, keine Auskünfte geben möchte.
Im Herbst 1943 beginnen die Amerikaner damit, München anzugreifen. Erstmals werden Primaner eingezogen. Die älteren Jungen werden zuerst tageweise, dann wochenweise im Wechsel zum Flakhelfereinsatz nach München gefahren, zuerst nach Freimann, am Rand der Stadt, wo sich eine Einflugschneise befindet, dann auch in die Stadt hinein. Werner, den Julius’ Freund Paul einen Bonzensohn genannt hat, weil sein Vater ein hohes Tier in der Reichsverwaltung ist, erzählt, er habe drei Tage lang Munition auf das Dach der Akademie der Künste geschleppt. Munition und Geschütze müssen getrennt transportiert werden, erklärt er den Jüngeren, sonst explodieren die Granaten an der falschen Stelle. Wir sind mindestens achtzig Meter gelaufen, hin und her, den ganzen Tag. Es gab nur einen einzigen Offizier, und uns. Die Jüngeren hören gebannt zu.
Andere Jungen werden in den nahe liegenden Perlacher Forst gebracht. Manchmal begleitet ein Lehrer sie und versucht, sie in den Pausen zu unterrichten. Die Luftwaffenhelfer werden » Glühwürmchen« genannt.
Du warst zu jung, Julius; du durftest noch nicht mit.
Julius hört die Geschichten der Älteren am Abend. Für ihn sind die Tage wie immer, er treibt Sport, lernt Geschichte, Latein, Chemie und Mathematik. Er ist ehrgeizig. Im Geschichtsunterricht nehmen sie die Entstehung des Römischen Reichs durch und lesen Felix Dahns Kampf um Rom. Im Werkunterricht baut Julius ein Flugzeugmodell, das als das beste benotet wird. Alle Jungen müssen einzeln oder zu mehreren Vorträge vorbereiten. Die Themen kreisen um die Leistungen der deutschen Kultur, Naturwissenschaft und Technik und ihre Bedeutung für den Nationalsozialismus; sie befassen sich mit den wirtschaftlichen Hintergründen des Kriegs; mit Amerikanismus und Bolschewismus . Julius erarbeitet einen Vortrag über » Die deutsche Ostgrenze als Spiegelbild von Größe und Verfall deutscher Politik«. Er hat keine Zweifel. Dabei liest er viel. Er liest Lessing, Schiller, Conrad Ferdinand Meyer und was er sonst noch findet. Die Tage vergehen.
Abends spielt er mit den anderen aus seiner Baracke Karten, meistens Skat, oder er wandert mit Paul im Dunkeln herum, um echte Glühwürmchen zu sehen. Es riecht würzig nach den Tannen und dem See, der Wind streicht durch die hohen Bäume. Julius lernt unter der Decke in der Nacht seinen Körper kennen.
Wie warst du damals? Du musst mir erzählen!
Julius vermisst seine Schwester Dorothea, seine Mutter, ihren weißen Spitz Bobby und seinen Vater. Die Familie schreibt selten Briefe, oder sie gelangen nicht zu ihm. Auch er schreibt nicht mehr so häufig wie früher.
Kurz vor Ostern 1944 verlässt Max aus München die Schule. Er hat die Mittlere Reife, und sein Vater, der in der Reichsreiseabteilung tätig ist, glaubt nicht daran, dass der Junge das Abitur noch wird machen können. Max soll es nicht sagen, aber Julius hört es, wie er es im Waschraum seinem besten Freund Erich erzählt. » Mein Vater denkt, wir werden sowieso alle früher oder später eingezogen, und vielleicht habe ich noch die Chance, eine Ausbildung zu machen. Dann kann ich wenigstens einen Beruf, wenn der Krieg vorbei ist.« – » Aber was sollst du denn lernen?«, fragt Erich, der seinen Freund entsetzt ansieht. » Ich soll ein Reisekaufmann werden.« – » Wie bitte? Reisen? Wer denkt denn an so etwas?« – » Ich weiß es ja auch nicht. Mein Vater sagt, verreisen tun die Leute immer. Auch nach dem Krieg. Bitte, sag aber nichts!«
Julius ist empört. Wieso sollten sie das Abitur nicht schaffen? Er hat doch noch ein paar Jahre vor sich! Ob er Meldung machen soll? Petzen ist verpönt in der Schule, und schließlich, was würde es schon bringen? Er ist bekümmert, immerhin ist Max’ Vater in einer hohen Position. Und wenn der schon die Lage so einschätzt! Wie verantwortungslos! Julius ist noch ein halbes Kind; für ihn gilt, was die Lehrer sagen. Kurz darauf melden sich die Ersten freiwillig. Dafür ist Julius noch zu jung.
Nach den Sommerferien beginnt das neue Schuljahr, 1944/45. Das Essen wird jetzt auch für die Schüler rationiert, obwohl Julius Goerlitz
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