Der Tag ist hell, ich schreibe dir
gute Verbindungen zu den Versorgungsstellen des Reichs hat. Außerdem hat er schon im vergangenen Jahr angefangen, Vorräte in Büchsen zu horten. Es gibt jetzt häufiger Knäckebrot und Milchreis, mal mit und meistens ohne Rosinen.
Die Häftlinge aus dem Konzentrationslager suchen in den Mülleimern hinter der Küche nach Essensresten. Einer hat versucht fortzulaufen und wurde vom Kapo unten im Schilf am See wieder aufgegriffen und mit einer Bierflasche niedergeschlagen. Einer ist bei der Arbeit ohnmächtig geworden; er wurde durchgeprügelt, bis er nicht mehr gehen konnte.
Paul, Julius’ einziger enger Freund, steckt einem der dürren Männer eine Stulle und einen Apfel zu. Pauls Bruder Emil ist in französische Kriegsgefangenschaft geraten, und Paul sagt: » Vielleicht hat er ooch nüscht zu fressen, und vielleicht hat ooch eener Mitleid mit ihm.«
Richard, der die Oberaufsicht in der Baracke neben der Kantine führt, beobachtet es. Er verpfeift Paul. Paul wird zu Schulleiter Goerlitz geordert und muss am anderen Tag die Schule verlassen, wegen » Moral zersetzenden Verhaltens«. Julius trifft den Freund ein letztes Mal, am Abend, unter den bläulichen Tannen am See.
Am nächsten Morgen wird Paul fortgebracht, und Julius verhaut zum ersten Mal eine Mathearbeit. Er hat Angst, von der Schule verwiesen zu werden, und schreibt den Eltern einen kleinlauten, zerknirschten Brief. Julius ist vierzehn Jahre alt.
Er weiß nicht, dass Goerlitz sich manchmal einen der älteren Schüler auf ein Zimmer im » Forsthaus am See« bestellt, um sich zu trösten, vielleicht, weil er ahnt, dass sie keine Aussicht mehr haben auf einen Sieg, vielleicht, weil ihn der Krieg erregt, vielleicht, weil er seine Gedanken besser zusammenbekommen kann, wenn er die junge, feste Haut an seinem Körper fühlen kann und wenn ihm einer bedingungslos erliegt. Der pädagogische Eros ist ein dehnbarer Begriff.
Im Herbst helfen die Jungen den Bauern von Feldafing bei der Ernte. Sie bekommen Äpfel dafür. Einige Lehrer und der älteste Jahrgang der Schüler werden zur Wehrmacht eingezogen.
Julius schließt sich enger an Karl aus Bochum, aber er kann seinen rothaarigen Freund mit den Sommersprossen nicht vergessen. Er hat mit ihm gelacht, und manchmal haben sie mit Holzstücken im Wald den Kriegsverlauf nachgestellt, als wären sie die Feldherren; so wie Julius es zu Hause mit seinen Zinnsoldaten gespielt hat. Und manchmal haben sie einfach nur im Gras auf der Wiese gelegen und den Wolken nachgesehen, bevor einer von beiden rief, los, jetzt, ins Wasser! Paul hat nicht in die Schule gepasst. Er ist neugierig und zu verspielt. Er hat immer wieder vergessen, was man unausgesprochen von ihm verlangt.
Julius wartet jeden Tag auf einen Brief, auf ein Lebenszeichen, er will wissen, wie es Paul geht, bis ein älterer Junge ihn beiseitenimmt: » Warte nicht, sie würden dir den Brief nicht geben.«
Er sitzt immer häufiger am Klavier oder liest Geschichtsbücher, um sich abzulenken. Er ist über den Sommer sehr gewachsen. Anzeichen für die körperliche Veränderung, auf die er doch lange sehnsüchtig gewartet hat, sind ihm jetzt egal. In dieser Zeit legt er sich manchmal, wenn er allein ist, im Aufenthaltsraum eine Schallplatte von Brahms auf. Er hört zu, ohne zu merken, wie die Zeit vergeht. Er hört Klavierstücke, Sonaten und Lieder, es sind die drei Platten, die der Musiklehrer ihm zur Verfügung gestellt hat. Er versucht, den Aufbau der Musik zu verstehen, doch oft versinkt er einfach nur in einem eigentümlichen Zustand, der ihn tröstet und beruhigt. Nur die Lieder erträgt er schlecht. Ihre Worte sind so sehnsüchtig.
Der Sport wird Wehrübungen immer ähnlicher. Pfiff, Pfiff, Pfiff. Sie müssen mit nacktem Oberkörper bei jedem Wetter dauerlaufen; sie müssen durchs Dickicht robben, schwere Gegenstände übers Feld schleppen. Sie sind die viele Bewegung gewohnt.
Liebster Julius,
wir hoffen sehr, dass es dir in Feldafing an nichts mangelt. Dein Vater arbeitet nun Tag und Nacht. Es ist ja alles, wie du weißt, viel schwieriger geworden, was die Verteilung der Rohstoffe angeht.
Die Handschrift der Mutter, immer ein bisschen kindlich rund, weist ein leichtes Zittern auf. Julius weiß, dass im Ruhrgebiet Eisenbahnen und Zechen zerstört worden sind.
Deiner Schwester geht es sehr gut in der Kinderlandverschickung. Bobby ist traurig, weil nun gar kein Kind mehr mit ihm Gassi geht. Ich helfe den Großeltern in der Metzgerei so gut ich kann. Es
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