Der Tag mit Tiger - Roman
wenig an den Schläfen. Doch zusammen mit seiner modischen Brille, fand sie, wirkte das tatsächlich sexy. Abschließend urteilte sie, dass der ganze Mann bei näherer Betrachtung einen äußerst appetitlichen Eindruck machte.
Als Anne mit ihrer Musterung fertig war, hatte er auch seine Mahlzeit beendet, und sie schob ihre rosa Nase weiter vor und stupste sein Handgelenk.
»Aufgegessen, leer! Tut mir leid, da hättest du früher Bescheid geben müssen.«
»Dummkopf! Verstehst du nicht, ich will gestreichelt werden«, versuchte sie ihm ihre Gedanken zu übermitteln, undzur Unterstützung rieb sie ihren Kopf seinem Arm. Das wurde belohnt.
»Na, dann komm rüber. Ich weiß zwar nicht, wo du herkommst und was du alles für Katzenflöhe hast, aber es wird schon nicht so schlimm sein.«
Als Christian sie auf seinen Schoß hob und zu kraulen begann, verzieh ihm Anne das Gerede von den Katzenflöhen und fiel in beglückte Hypnose.
Tiger und Nina hatten inzwischen ein weiches Plätzchen zum Verdauen und Dösen auf dem Berberteppich gefunden, und in der folgenden halben Stunde herrschte tiefstes Einvernehmen zwischen Mensch und Tieren; nur Christian schnurrte nicht.
Doch leider fand diese Idylle bald ein Ende. Telefonklingeln schreckte alle aus der gedankenverlorenen Stimmung auf. Christian setzte Anne mit einer Entschuldigung auf den Fußboden und ging zum Telefon. Die beiden anderen gähnten, streckten und reckten sich, und als Anne zu ihnen kam, hieß es: »Auf zum abendlichen Reviergang.«
Über Balkon und Treppchen huschten sie nach unten und begannen gemeinsam die Runde in Ninas Revier.
Die Jacke
Sie verließen diesmal die Gärten und überquerten die Straße, um in die Wildnis zu kommen. Die Sonne war schon untergegangen, und in der Dämmerung wurde es in den Wiesen munter. Zwei Igel kreuzten ihren Weg, den Stamm einer Buche schoss ein Eichhörnchen empor und beschimpfte sie lautkeckernd wegen der Störung. Tiger fauchte warnend zurück, ließ es aber in Ruhe, dafür machten sie sich gemeinsam einen Spaß daraus, eine behäbige Fasanenfamilie aufzuscheuchen, woraufhin diese schwerfälligen Flieger unter Protestgelärme aufflatterten und sich einige Meter weiter entfernt niederließen. Dorfbewohner führten Hunde verschiedener Größe und Rasse auf den gepflasterten Wegen spazieren, und Mensch und Tier blieben zuweilen in müßiger Unterhaltung beieinander stehen. Am Bächlein spielten noch einige Kinder, die Fahrräder achtlos ins Dickicht geworfen. Unter ihnen waren auch Joanna und Eddy. Das Geplapper und gelegentliches Lachen füllten die abendliche Stille.
Nina und Tiger waren an der Stelle angekommen, an der sie sich bereits am Morgen getroffen hatten, denn hier berührten sich ihre Reviere. Anne kam etwas langsamer hinterher getrottet, sie hatte hier und da noch etwas stöbern und schnuppern müssen. Als sie alle drei wieder zusammen waren, beschlossen Tiger und Nina, noch ein wenig zu jagen. Anne verzichtete auf dieses Vergnügen mit der Begründung, sie sei satt und Maus sei sowieso nicht ihre Lieblingsnachspeise.
»Na gut, dann amüsier dich alleine. Die Gegend kennst du inzwischen ja«, forderte Tiger sie auf. »Wir sehen uns später.«
»Gute Jagd«, wünschte Anne den beiden und schaute den schwankenden Schwänzen nach, wie sie im hohen Gras verschwanden. Dann machte sie sich alleine auf den Weg. Ein leichtes Durstgefühl trieb sie Richtung Wasserlauf, wo auch die Kinder spielten. Vor ihnen hatte sie jetzt keine Angst mehr.
Der kleine Stausee war noch vorhanden, und inzwischen war auch das Wasserrad wieder repariert und in Betrieb genommen worden. Soeben wurde der Damm mit Hilfe vonZweigen und Erde weiter erhöht, wodurch das Wasser noch weiter anstieg. Für Anne war das sehr bequem, denn die Gefahr des Abrutschens war damit gebannt.
»Seht mal, eine Katze trinkt aus unserem See«, bemerkte eines der Kinder. Sofort wollte Anne sich zurückziehen, aber da hörte sie Joanna antworten: »Lass sie in Ruhe! Vielleicht will sie ein paar Fische angeln.«
Ein Defekt an dem Wasserrad lenkte die Aufmerksamkeit der Gruppe schnell wieder von Anne ab. Nachdem ihr Durst gelöscht war, warf sie einen Blick auf das Wasser. Hier war es ruhig und glasklar bis zum steinigen Grund. Ein paar kleine Fische flitzten am Boden hin und her.
Anne überlegte, ob sie tatsächlich ihre Fähigkeit im Angeln erproben sollte. Rohen Fisch hatte sie als eine Delikatesse von ihren gelegentlichen Besuchen eines japanischen
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