Der Tag wird kommen
könnte der Tag sein, an dem er mich fertigmacht. Mit Gunnar mitzugehen, ist vielleicht meine Rettung.
Wir laufen zusammen die Treppe zur Lehreretage hoch. Dorthin ziehen sie sich zurück, wenn sie ihre Ruhe vor uns pickligen Teenagern haben wollen. Durchs Fenster sehe ich, wie die anderen aus meiner Klasse aus der Schule strömen und sich in Gruppen auf den Heimweg machen. Der Lärm von trampelnden Füßen und Rufen wird leiser, je höher wir kommen. Ich frage mich, ob Gunnar mich außerhalb der Unterrichtszeit hier festhalten kann. Er bildet sich wohl ein, das hier sei freiwillig.
Gunnar ist einer dieser hundertfünfzigprozentigen Lehrer. Einer, der bestimmt schon als Kind Lehrer werden wollte und der meint, dass er einen supertollen Unterricht macht. Man kann leicht sehen, wie er es genießt, im Mittelpunkt zu stehen. Es scheint sogar, als gefielen ihm die Sticheleien von Andreas und ein paar anderen, die sich wichtigmachen wollen. Er denkt wohl, er kann damit umgehen, er ist cool, dabei ist es bloß peinlich, wenn er einen auf Kumpel macht.
Gunnar ist im selben Alter wie Mum und Dad, also jünger als die meisten Eltern. Er trägt Jeans und dazu ein Anzugjackett, als wäre er jung und zugleich alt. Sein dunkles Haar wird schon langsam grau. Woher kommt Gunnars plötzliches Interesse für mich? Strebt er nach einem Goldstern auf einer Rangliste im Lehrerzimmer? Oder ist da eine Lücke in seinem Leben, die er füllen muss, indem er mich zu seinem ganz persönlichen Betreuungsfall macht?
Unsere Schuhe quietschen auf dem grünen PVC-Boden. Das Geräusch wird von den Wänden zurückgeworfen und hallt durch den leeren Korridor. Gunnar steuert mit mir auf den Gruppenraum zu.
Ich weiß, dass ich um Projekte einen großen Bogen machen sollte, aber solange es nur darum geht, dass Gunnar mir was erzählt und ich zuhöre, ist es wohl okay. Gunnar redet schon unterwegs los, so wie Leute es tun, wenn sie Angst vor der Stille haben. Ich höre nicht hin, gebe nur zwischendurch mal einen Laut von mir, wenn sein Tonfall andeutet, dass eine zustimmende Äußerung erwartet wird.
Der Raum ist nicht leer. Am kleinen runden Tisch sitzen schon drei Leute. Spasti-Bettina hampelt mit ihren verkrampften Armen und grinst blöd. In der engen Jeans und dem weit ausgeschnittenen Top – der typischen Luder-Uniform – gibt sie ein ziemlich groteskes Bild ab. Offenbar begreift sie nicht, dass sie nie so aussehen wird wie die Mädchen, denen die Jungs hinterherhecheln. Vermutlich hat ihr irgendwer eingeredet, dass sie genauso ist wie alle anderen.
Neben Bettina sitzt Magnus. Ein elend langer Lulatsch, der immer einen Haufen Bücher mit sich herumschleppt. Alle wissen, dass Magnus eine Form von Autismus hat – ohne dass er deswegen irgendwie besonders begabt wäre. Oder vielleicht ist er ein Genie in Mathe, aber das kümmert hier keinen.
Ein bisschen abseits von den anderen, mit dem Stuhl so dicht wie möglich an der Wand, sitzt Daniel. Von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet, in seiner knallengen Röhrenhose halb auf dem Stuhl liegend, sieht er aus wie ein abgebranntes Streichholz. Die geschminkten Augen haben einen leidenden Ausdruck und seine Arme zieren gut sichtbare Verbände. Er kriegt wohl noch nicht genug Prügel wegen seines Kleidungsstils, deshalb ritzt er sich selbst.
Gunnar setzt sich neben ihn und zeigt auf den leeren Stuhl zwischen Daniel und Magnus. Ich soll in den Kreis der Ausgestoßenen kommen. Mir ist, als würde eine Falle um mich zuschnappen.
Was hat das für einen Zweck?
Sollen wir Trost in der Gemeinschaft finden? Heißt das, ich soll hier rumhocken und einem Haufen Missgeburten von meinen Problemen erzählen? Hält Gunnar es auch nur im Entferntesten für möglich, dass wir vier uns anfreunden?
Ehrlich, ich würde lieber mit einem grottenschlecht gelaunten Andreas ganz allein in einem Zimmer eingesperrt sein, als hier bei denen zu sitzen. Am liebsten würde ich abhauen. Mich umdrehen und wegrennen. Aber so was bringe ich nicht fertig. Also setze ich mich auf den freien Stuhl, immer noch geschockt von dieser Hinterlist. Gunnar muss das geplant haben. Er muss gewusst haben, dass ich nie mitgegangen wäre, wenn er mich in sein Vorhaben eingeweiht hätte.
»So. Wollen wir anfangen?« Gunnar lächelt zufrieden und blickt in die Runde, als wäre es eine Heldentat, uns in einem Raum versammelt zu haben.
»Daniel, rückst du mit deinem Stuhl etwas mehr in den Kreis?«
Daniel richtet seinen missmutigen Blick auf Gunnar.
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