Der Talisman
Hämmern mit den Fäusten oder Treten mit den Füßen kam er nicht heraus, das wusste er, und er wusste ebenso gut, dass sie ihn nicht herauslassen würden, nur weil er schrie, man solle ihn herauslassen. Aber er konnte nicht anders. Für Wolf gab es nichts Schlimmeres, als eingesperrt zu sein.
Sein Geheul war überall in der unmittelbaren Umgebung des Sunlight-Heims und sogar auf den angrenzenden Feldern zu hören. Die Jungen, die es hörten, blickten einander nervös an und schwiegen.
»Ich habe ihn heute morgen in der Toilette gesehen, und er ist wild geworden«, vertraute Roy Owdersfelt seinem Freund Morton mit leiser Stimme an.
»Waren sie wirklich miteinander zugange, wie Sonny gesagt hat?« fragte Morton.
Ein weiteres Wolfsgeheul kam aus der massigen Eisenbox, und die Blicke beider Jungen wanderten in ihre Richtung.
»Und wie!« sagte Roy nachdrücklich. »Ich habe es nicht genau gesehen, weil ich kurzsichtig bin, aber Buster Oates stand ganz vorn, und er hat gesagt, der große Schwachkopf hätte einen Schwanz von der Dicke eines Hydranten. Genau das hat er gesagt.«
»Jesus!« sagte Morton beeindruckt; vielleicht dachte er an sein eigenes, etwas unterentwickeltes Glied.
Wolf heulte den ganzen Tag, aber als die Sonne unterzugehen begann, verstummte er. Den Jungen war die plötzliche Stille unheimlich. Sie sahen einander an und blickten sogar noch öfter und mit mehr Unbehagen zu dem eisernen Quader hinüber, der in der Mitte einer kahlen Stelle auf dem Hinterhof des Heims stand. Die Box war rund zwei Meter lang und knapp einen Meter hoch; von der in die Westseite geschnittenen, ungefähr quadratischen und mit schwerem Maschendraht verkleideten Öffnung abgesehen, sah sie in der Tat aus wie ein eiserner Sarg. Was geht da drinnen vor? fragten sich die Jungen. Und sogar während der Beichte, die sie normalerweise völlig hinriss und alle anderen Gedanken verdrängte, wanderten ihre Augen immer wieder zum einzigen Fenster des Aufenthaltsraums, obwohl dieses Fenster auf die der Box gegenüberliegende Seite des Hauses ging.
Was geht da drinnen vor?
Hector Bast wusste, dass sie mit ihren Gedanken nicht bei der Beichte waren, und das ärgerte ihn, aber er konnte sie nicht bei der Stange halten, weil er nicht genau wusste, was los war. Ein Gefühl ängstlicher Erwartung hatte von den Jungen im Heim Besitz ergriffen. Ihre Gesichter waren bleicher als je zuvor; ihre Augen glitzerten, als hätten sie Rauschgift genommen.
Was geht da drinnen vor?
Was da drinnen vorging, war einfach genug.
Wolf hatte auf den Mond reagiert.
Er spürte, wie es geschah, als der Flecken Sonnenschein, der durch die Lüftungsöffnung einfiel, immer höher stieg und das Licht einen rötlichen Ton annahm. Es war zu früh, auf den Mond zu reagieren, er war noch nicht voll, und er würde darunter zu leiden haben. Dennoch passierte es, wie es einem Wolf schließlich immer passiert, ob bei Vollmond oder nicht, wenn er zu lange unter zu starkem Druck steht. Wolf hatte sich lange beherrscht, weil Jack es wünschte. Für Jack hatte er in dieser Welt große Heldentaten vollbracht. In einigen Fällen hatte Jack eine dunkle Ahnung davon, aber ihre wirklichen Ausmaße würde er nie auch nur annähernd begreifen können.
Aber jetzt war er dem Tode nahe, und er hatte auf den Mond reagiert, und weil das eine das andere mehr als erträglich zu machen schien – es war fast heilig und gewiss eine Fügung –, verspürte Wolf Erleichterung und Glück. Es tat so gut, nicht mehr kämpfen zu müssen.
Sein Mund, plötzlich voller scharfer Zähne.
3
Auf Hecks Abgang folgten Bürogeräusche, das leise Scharren von Stühlen, das Klirren von Schlüsseln an Sunlight Gardeners Gürtel, die Tür eines Aktenschrankes, die geöffnet und dann wieder geschlossen wurde.
»Abelson. Zweihundertundvierzig Dollar und sechsunddreißig Cent.«
Das Geräusch von Tasten, die angeschlagen wurden. Peter Abelson war einer der Jungen im Außendienst. Wie alle AD-Jungen war er intelligent, umgänglich und hatte keine physischen Defekte. Jack hatte ihn nur ein paar Mal gesehen und dabei an Dondi denken müssen, eine heimat- und obdachlose Figur aus einem Comicstrip.
»Clark. Zweiundsechzig Dollar und siebzehn Cent.«
Wieder das Klicken der Tasten. Die Maschine ratterte, als Sonny sie addieren ließ.
»Das ist mehr als bescheiden«, bemerkte Sonny.
»Keine Sorge, ich rede mit ihm. Aber bitte halt jetzt den Mund, Sonny. Mr. Sloat trifft um zweiundzwanzig Uhr
Weitere Kostenlose Bücher