Der Tanz des Maori (epub)
meinem Leben gestrichen, in dem ich den Zug zurück nach Westport bestiegen habe. Ich war dankbar, von ihm nichts mehr hören zu müssen.« Sie sah Sina aus ihren dunklen, tief liegenden Augen fragend an. »Macht mich das zu einem schlechten Menschen?«
»Nein«, lächelte Sina. »Ich habe Ewan kurz kennengelernt, er wirkte nicht unglücklich ⦠Offensichtlich hat es den kleinen Junior schlimmer erwischt. Wenn alles, was Brandon erzählt hat, wahr ist, dann hat er wohl nie wieder Fuà fassen können. Armer Wurm.«
Sie sah sinnend in den Garten, als ihr noch etwas aus Ruihas Erzählung einfiel. Sie deutete auf das Haus mit seinen grau verwitterten Steinmauern und den blau gestrichenen Fensterläden und der Tür, von der die Farbe blätterte. »Ist das hier wirklich das Haus, in dem vor über sechzig Jahren John und Ava gelebt haben? Hier war meine GroÃmutter zu Hause?«
Ruiha nickte. »Ich habe nicht mehr darüber nachgedacht, bis ich angefangen habe, dir meine Geschichte zu erzählen. Aber es ist wahr: Dieses Haus habe ich von Angus bekommen. Der Lohn für meine Dienste. Anfangs habe ich mich unwohl gefühlt, habe immer damit gerechnet, dass Ava oder John um die Ecke kommen und mich fragen, warum ich nicht in meiner Kammer unter dem Dach bin.« Sie lächelte entschuldigend. »Dann habe ich mich daran gewöhnt. Hier habe ich meine und Anarus Kinder bekommen, sie sind unter diesem Dach aufgewachsen. Ich habe nur noch selten an die Vergangenheit gedacht. Du kannst das noch nicht wissen, aber mit drei Kindern zählt erst einmal nichts auÃer der Gegenwart.«
Sina war immer noch fassungslos ob der Wendung, die die Geschichte von Ava plötzlich genommen hatte. Nie war ihr klar gewesen, dass die Erklärung für George Cavanaghs Verhalten so einfach sein könnte. Und erst ganz allmählich wurden ihr wirklich alle Konsequenzen bewusst. »Brandon und Hakopa ⦠sie sind Cousins. Seit Jahren sind sie befreundet, und nie haben sie etwas geahnt. Das ist doch â¦Â« Sie bemerkte Ruihas zurückhaltenden Blick.
»Du hast nicht vor, es ihnen zu sagen, oder?«
Die alte Frau strich sich mit beiden Händen durch die Haare. Eine Geste, die sie sicher schon als junges Mädchen gemacht hatte, wenn sie über etwas nachdachte. Als Angus MacLagan ihr vorgeschlagen hatte, sein Kind der Gewalt auszutragen, war sie sich sicher auch mit genau dieser Bewegung durch die Haare gefahren. »Die Wahrheit ist so lange nicht an das Tageslicht gekommen. Ich habe Angst, welche Kreise das zieht. Wenn Brandon erfährt, dass er mein Enkel ist, dann hört Ewan, wer seine wahre Mutter ist. Wie kann ich ihm in die Augen sehen? Ich bin die Mutter, die ihn einfach im Stich gelassen hat, er muss mich hassen!« Sie zögerte. »Ich kann ihm die ganze Wahrheit erzählen, aber damit würde genau das passieren, vor dem Angus so schreckliche Angst hat. Die alten Geschichten und Albträume würden plötzlich über die ganze lange Zeit hinweg in die Gegenwart reichen und alles zerstören. Seine Familie, die er sich in Charteris Bay aufgebaut hat, und auch meinen Frieden, den ich hier in Seddonville gefunden habe.«
Sina runzelte die Stirn. Offenbar hatte Ruiha sich schon länger damit beschäftigt, was passieren würde, wenn die Wahrheit ans Licht käme.
»Was passierte denn in dem Jahr in Charteris Bay?«, fragte sie schlieÃlich.
»Das ist eigentlich schnell erzählt«, meinte Ruiha mit einem Blick auf die kleine Armbanduhr, die sie an ihrem schmalen Handgelenk trug. »Wir blieben ein paar Tage in der kleinen Pension, dann fand Angus ein Haus in Charteris Bay, das er mieten konnte. Hier sind wir eingezogen. Ich habe mich als Kindermädchen um Junior gekümmert, ein junges Ding, das er einstellte, kümmerte sich um den Haushalt. Sie merkte wohl ziemlich schnell, dass ich etwas Kleines erwartete â aber sie ging einfach davon aus, dass ich von meinem Verlobten in Seddonville schwanger war und stellte weiter keine Fragen. Angus fuhr oft an die Westküste, ich war die meiste Zeit mit Junior und meinen Gedanken alleine. Angus lieà alle in dem Glauben, dass seine Frau Miriam noch in Seddonville wohnte. Wenn jemand nachfragte, dann erklärte er immer, dass Miriam schwanger sei und der Arzt ihr das Reisen und andere Anstrengungen untersagt hatte. Ein geschickter Schachzug: So war es für jeden
Weitere Kostenlose Bücher