Der tausendfältige Gedanke

Streitkolben zu hören und das Schreien Sterbender. Gauslas, der Sohn des Grafen Cerjulla, fiel als erster adliger Inrithi. Cinganjehoi selbst mit seinem silbernen Helm schlug ihm den Kopf ab. Doch weder Gauslas’ vor Gram aufheulende Warnutishmänner noch die übrigen Kämpfer aus Ce Tydonn waren gebrochen. Eisern hämmerten sie Schilde nieder und trafen manchen Gegner tödlich am Kopf. Selbst Krummsäbel zerbrachen sie mit ihren langen, gekerbten Schwertern und schlugen wiehernden Pferden den Schädel ein.
    Vor einem blauschwarzen Wasserlauf zügelten sie dann ihre Pferde. Wie durch ein Wunder hatten sie das Flussufer eingenommen.
    Die Granden von Eumarna waren besiegt, getötet oder in die Flucht geschlagen, doch es gab keine Atempause. Wie zornige Bienen sammelten sich die Fanim längs der Flanken und sogar im Rücken der Inrithi, kamen im Bogen auf sie zugaloppiert und feuerten dabei Pfeil auf Pfeil ab. Die Verwundeten, die am Boden lagen, brüllten durch das Dickicht vorbeitrampelnder Beine. Nun wurden die Brückenköpfe zurückerobert, und die Grafen der Inrithi schärften ihren Männern lautstark ein, sie unbedingt zu halten. Erbitterte Scharmützel wüteten auf den Brücken und in der Wildwasserfurt, doch die Fanim machten schon die Flöße flott, die ihre Mastodonten vom Tantanah-Tor herbeigeschleift hatten. Am anderen Ufer des Jeshimal schien es von Feinden nur so zu wimmeln. Reiter der Fanim drängten aufs erste Floß. Immer mehr Pfeile gingen auf die Inrithi nieder.
    Graf Gothyelk sah zur weiß gekachelten Stadtmauer hinüber und stellte fest, dass Pfalzgraf Chinjosa und seine Ainoni noch immer keine Ordnung in ihre Truppen gebracht hatten. Viele Männer drängten sich weiter auf den Brustwehren.
    Fluchend befahl er seinem Hornisten, zum Rückzug zu blasen. Sie hatten den Jeshimal verloren.
     
     
    Kellhus murmelte ein Zauberwort, und ein Lichtpunkt erhellte das niedrige Gewölbe. Obwohl das Gemach nach den Maßstäben der Inrithi prunkvoll gewirkt hätte, war es schmuckloser als alles, worauf er seit seinem Abstieg in die Dunkelheit gestoßen war. Die Friese verdeckten keine weiteren Reliefs. Auch schienen sie in Sujet und Darstellung zurückhaltender zu sein, als stammten sie aus einer älteren, schwerfälligeren Zeit. Allerdings kam Kellhus zu dem Schluss, dies habe wohl mit der Bestimmung des Zimmers zu tun, das eine Art Zugangsraum zu den alten Abwasserkanälen der Anlage gewesen sein mochte.
    Werkbänke und seltsame Eisen- und Holzkonstruktionen ließen Schatten auf die Wände fallen. Am anderen Ende des Gemachs, wo die Decke so niedrig war, dass man sich bücken musste, öffnete sich unter zusammenlaufenden Rinnen eine Zisterne, die freilich so staubtrocken war wie alles andere im Zimmer. Ein Stück näher waren zwei Schächte oder Gruben in den Boden eingelassen, deren behauene Ränder Händen glichen, die aus der Dunkelheit griffen und an vier Figuren zerrten, die mit ausgestreckten Armen und Beinen dalagen und in die vier Himmelsrichtungen wiesen. Mit zu lautlosem Heulen in den Nacken gebogenem Kopf klammerten sie sich in erstarrter Verzweiflung an den Boden.
    Die zwei Hautkundschafter hingen – an Armen und Beinen mit Eisenketten gefesselt – über diesen Gruben.
    Kellhus trat zu einem von ihnen und kam dabei an einem Trichter vorbei, der zu einer verrosteten Apparatur gehörte, welche zur Zwangsernährung diente. Wie viele Jahre mochte das Wesen hier in völliger Dunkelheit gehangen haben und Folterwerkzeugen und der penetrant gurrenden Stimme seines Vaters ausgesetzt gewesen sein?
    Mit einer Handbewegung zog er den Lichtpunkt näher heran. Schatten baumelten wie verschränkte Finger.
    Die Glieder, die ihr Gesicht bildeten, waren mit rostbraunem Draht, der an einem eisernen Ring befestigt war, dauerhaft auseinandergezogen. Schnüre und Flaschenzüge erlaubten es, das innere Gesicht der Wesen zurück- oder herunterzuziehen.
    »Wann hast du gemerkt, dass du nicht die Kraft hast, die Wiederkehr des Nicht-Gottes abzuwenden?«, fragte Kellhus.
    »Von Anfang an hielt ich es für wahrscheinlich«, gab Moënghus zurück. »Doch ich brauchte Jahre, um die Möglichkeiten abzuwägen und das Wissen zu sammeln. Als mir die ersten Ansätze zum Tausendfältigen Gedanken kamen, war ich ganz unvorbereitet.«
    Die Hirnschalen waren aufgesägt worden und hatten Lappen und milchige Windungen zum Vorschein gebracht, die längst unter Hunderten von silbernen Nadeln lagen. Neuropunktur. Kellhus streckte die