Der tausendfältige Gedanke
Finger aus und berührte eine Nadel. Das Wesen zuckte und wurde dann steif.
»Ich vermute«, sagte Kellhus, »dass du nicht völlig auf dem Trockenen sitzt – sonst hättest du schließlich nicht bis Ishuäl ausgreifen können, um den Dunyain dort Träume zu schicken.«
Durch sich kreuzende Ketten hindurch sah er seinen Vater nicken. Er war unbehaart wie die alten Nichtmenschen, die das Gestein ringsum behauen hatten. Welche Geheimnisse hatte er von diesen Gefangenen erfahren? Welche furchtbaren Gerüchte?
»Ich bin all der Elemente der Psukhe einigermaßen mächtig, bei denen es eher um Raffinesse als um Kraft geht: Kristallsehen, Beschwören, Übersetzen… Dennoch hat es mich beinahe umgebracht, dich zu rufen. Ishuäl liegt am anderen Ende der Welt.«
»Ich war der Kürzeste Weg.«
»Nein, du warst der einzige Weg.«
Kellhus musterte die beiden Eichenholzgevierte, die auf der anderen Seite der Schächte auf dem Boden lagen. Sie sahen wie Türen aus, hatten aber keine Scharniere und Klinken, sondern waren an den Ecken mit Haken versehen, um sie direkt unter die Hautkundschafter zu hängen.
»Und mein Halbbruder?«, fragte Kellhus. Er hatte so oft Beschreibungen von ihm gehört, dass er ihn – sein Gepränge, seine autoritäre Pracht – fast vor Augen hatte. Er umrundete die Hautkundschafter, um seinen Vater sehen zu können. Er wirkte verschrumpelt, wie er da fast nackt und seltsam gebeugt, womöglich gar gebrochen im gleißenden Licht stand.
Er nutzt jeden Herzschlag, um sich neu zu positionieren. Sein Sohn ist als Wahnsinniger zu ihm zurückgekehrt.
Moënghus nickte und sagte: »Du meinst Maithanet.«
Esmenet sah in die Bäume, den Kopf in Achamians Achsel gelegt. Sie atmete tief und langsam, schmeckte das Salz ihrer Tränen und roch die Feuchtigkeit der bemoosten Felsen, den bitteren Duft des flachgedrückten Grases. Die Blätter wehten wie kleine Fahnen, und ihr wächsernes Rascheln war trotz des Getöses im Hintergrund klar zu hören. Es schien wundersam und unmöglich zu sein: Kleine Zweige sprossen aus großen Zweigen, große Zweige aus Ästen, und alles wuchs planlos, aber genau strahlenförmig aufwärts, reckte sich tausend verschiedenen Himmeln entgegen.
Sie seufzte und sagte: »Ich fühle mich ungemein jung.«
Seine Brust hüpfte in stillem Gelächter unter ihrer Wange.
»Das bist du doch auch… Nur die Welt ist alt.«
»Oh, Akka, was sollen wir jetzt tun?«
»Das, was wir tun müssen.«
»Nein, das meine ich nicht.« Sie warf ihm von der Seite einen eindringlichen Blick zu. »Er wird es merken, Akka. Wenn er unsere Mienen sieht, erkennt er sofort, was hier geschehen ist… Er wird es wissen.«
Er wandte sich zu ihr. In seinem so grimmigen wie verletzten Blick traten alte Ängste zutage.
»Esmi – «
Das laute Schnauben eines nahen Pferdes unterbrach ihn, und sie sahen einander verwirrt und erschrocken an.
Achamian kroch den platt getretenen Weg zurück, den sie durchs Unkraut genommen hatten, und kauerte sich hinter das bröckelnde Mauerwerk. Sie kam ihm nach. Über seine Schulter hinweg sah sie eine Reihe Kavallerie – offenkundig kaiserliche Kidruhil – in langer Phalanx auf den Hügelkämmen stehen. Ernst und mit leerer Miene blickten die gepanzerten Reiter auf die brennende Stadt. Ihre Pferde stampften und schnaubten unruhig. Der zunehmende Lärm verriet ihr, dass sich noch sehr viel mehr Reiter von hinten näherten.
Conphas? Hier? Aber er sollte doch tot sein!
»Du bist ja gar nicht erstaunt«, flüsterte sie, während sie plötzlich begriff, und drückte sich an ihn. »Hat dir der Scylvendi also davon erzählt? Geht sein Verrat so weit?«
»Ja, er hat es mir erzählt«, bestätigte Achamian. Seine Stimme klang so leer und bestürzt, dass ihre Haut vor Angst prickelte. »Und er hat mir aufgetragen, die Hohen Herren zu warnen… Er wollte nicht, dass der Heilige Krieg Schaden leidet – vor allem wohl wegen Proyas… Aber als er weg war, konnte ich nur an eines denken… an…« Er stockte und sah sie mit großen Augen an. »Bleib hier. Halt dich versteckt!«
Sein Ton war so eindringlich, dass sie zurückwich und den Rücken an die Gabel zweier schlanker Stämme drückte. »Was redest du da? Akka…«
»Ich darf das nicht zulassen, Esmi. Conphas hat ein ganzes Heer… Mach dir klar, was geschehen wird!«
»Genau das tu ich, du Wahnsinniger!«
»Bitte, Esmi. Du bist seine Frau… Denk daran, was Serwë widerfahren ist!«
Vor ihrem geistigen Auge sah sie, wie das
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