Der Tempel der Ewigkeit
Gerüchten. Es hieß, Nefertari habe ein totes Kind zur Welt gebracht und sieche nun selbst dahin. Des weiteren munkelte man, Ramses sei der Verzweiflung anheim gefallen und habe den Verstand verloren. Chenar mochte diesen ausgezeichneten Neuigkeiten noch keinen rechten Glauben schenken, hoffte jedoch, daß sie nicht jeglicher Grundlage entbehrten.
Während er sich mit Dolente zum Palast begab, mühte er sich, eine ernste und zutiefst betrübte Miene zur Schau zu tragen. Dolente erweckte indes den Eindruck, als wäre sie tatsächlich sehr bedrückt.
«Solltest du mittlerweile eine vortreffliche Schauspielerin geworden sein, teure Schwester?»
«Diese Ereignisse erschüttern mich.»
«Dabei liebst du weder Ramses noch Nefertari.»
«Aber dieses Kind… dieses Kind ist ohne Schuld.»
«Was bedeutet das schon! Wie überaus empfindsam du plötzlich bist. Sollten die Gerüchte begründet sein, erhellt sich unsere Zukunft.»
Dolente wagte nicht, Chenar zu bekennen, daß der Erfolg des Magiers Ofir der wahre Grund ihrer Besorgnis war. Der Libyer mußte ein unglaublicher Meister in der Beherrschung der dunklen Mächte sein, wenn es ihm gelungen sein sollte, das Schicksal des königlichen Paares auf so zerstörerische Weise zu beeinflussen.
Ameni, der noch bleicher war als gewöhnlich, empfing die beiden.
«In Anbetracht der Umstände», erklärte Chenar, «dachten wir, der König hätte vielleicht gerne seinen Bruder und seine Schwester um sich.»
«Es tut mir leid, aber er zieht vor, allem zu sein.»
«Wie geht es Nefertari?»
«Die Königin ruht sich aus.»
«Und das Kind?» fragte Dolente.
«Der Arzt, Pariamakhou, ist bei ihm.»
«Vermagst du uns denn nichts Genaueres zu sagen?»
«Man muß Geduld haben.»
Während Chenar und Dolente den Palast wieder verließen, begegneten sie Serramanna und einigen Soldaten. Unter ihnen befand sich ein schlecht rasierter Mann ohne Perücke, der ein Gewand aus Antilopenleder mit unzähligen Taschen trug. Eiligen Schrittes steuerten sie die Privatgemächer des Königspaares an.
«Setaou! Du bist meine letzte Hoffnung.»
Der Schlangenkundige trat auf den König zu und betrachtete das Kind in seinen Armen.
«Eigentlich mag ich sie nicht, wenn sie noch so winzig sind, aber die hier ist ein kleines Wunder. Eindeutig Nefertaris Werk.»
«Merit-Amun, unsere Tochter! Sie wird bald sterben, Setaou.»
«Was erzählst du da?»
«Auf ihr lastet ein böser Zauber.»
«Hier, im Palast?»
«Ich habe keine Ahnung.»
«Wie äußert sich das?»
«Sie weigert sich, Nahrung aufzunehmen.»
«Wie steht es um Nefertari?»
«Ihr geht es äußerst schlecht.»
«Und der liebe Pariamakhou streckt vermutlich von vornherein die Waffen.»
«Er ist völlig ratlos.»
«Das ist er zumeist. Lege deine Tochter behutsam in ihre Wiege.»
Ramses kam der Aufforderung nach. Kaum hatte er Merit-Amun losgelassen, da atmete sie nur noch mit Mühe.
«Allein deine Kraft erhält sie am Leben… Genau das habe ich befürchtet. Aber… Woran denkt ihr überhaupt in diesem Palast? Das Kind trägt ja nicht einmal ein schützendes Amulett.»
Aus einer seiner Taschen zog Setaou ein Amulett in Form eines Skarabäus heraus, befestigte es an einer Kordel mit sieben Knoten und legte es Merit-Amun um den Hals. Die Inschrift auf dem Skarabäus lautete: «Der Tod wird mich nicht dahinraffen, das göttliche Licht wird mich erretten.»
«Nimm deine Tochter wieder auf den Arm», befahl Setaou, «und öffne mir die Türen der Arzneikammern!»
«Glaubst du, es gelingt dir…»
«Reden können wir später. Die Zeit drängt.»
Die Arzneikammern des Palastes bestanden aus mehreren Gemächern. Setaou schloß sich in dem Raum ein, in dem die unteren Eckzähne männlicher Nilpferde verwahrt wurden, die bisweilen länger als zwei Fuß und breiter als eine Hand waren. Er schnitzte aus einem eine Mondsichel mit sehr lang gezogenen Spitzen. Nachdem er die Oberfläche sorgsam poliert hatte, ritzte er mehrere Figuren in das Elfenbein. Sie sollten die unheil bringenden Mächte zurückdrängen, die der Nacht entstiegen waren, um die Mutter und das Kind zu töten. Setaou hatte die Figuren ausgesucht, die ihm am besten geeignet schienen, der Lage Herr zu werden: einen geflügelten Greif mit dem Körper eines Löwen und dem Kopf eines Falken, ein weibliches Nilpferd, das ein Messer schwang, einen Frosch, eine Sonne mit Strahlenkranz und einen bärtigen Zwerg, der in jeder Hand eine Schlange hielt. Indem er sie laut beschrieb,
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