Der Teufel in Frankreich
möglich war.
Da waren etwa der frühere Lektor eines Berliner Verlags, Herr H., und sein Sohn. Der Vater war ein kleiner, freundlicher, milder Herr: weder der erste Krieg noch Hitler hatten sein Wesen verändern können. Er war mit einer Französin verheiratet, der älteste seiner Söhne war Offizier im französischen Generalstab. Herr H. lebte im Lager, als ob dieses Lager das kosmopolitische Berlin des Jahres 1913 gewesen wäre. Es war nicht ganz leicht, herauszubekommen, ob sein lächelnder, kopfschüttelnder Gleichmut Philosophie war oder Verständnislosigkeit. Sein junger Sohn, von Kindheit an hinkend, hatte schon zu Beginn des Krieges übelste Erfahrungen in einem Pariser Konzentrationslager machen müssen. Er war trotz seiner Jugend ebenso gleichmütig wie sein Vater. Beide waren sie gefällige Leute, beide genossen sie dankbar die tausend kleinen Freuden, die auch das trübste Dasein mit sich bringt, als da sind der Umstand, daß das Brot heute etwas besser ist, daß man mehr Wasser bekommt, daß in der Kantine Zigaretten zu haben sind. Oft war mir, als ob Vater und Sohn hinter ihrem freundlich geschäftigen Interesse an derart kleinen Dingen nur ihren Kummer und ihre Angst zu verstecken suchten. Dem Vater haben die Leiden und Erniedrigungen des Konzentrationslagers bestimmt sehr zugesetzt, er hat seine Entlassung nur um wenige Wochen überlebt.
Ein Mann, mit dem sich besonders gut reden ließ, war der in Dalmatien geborene Schriftsteller R., ein stattlich aussehender Herr, von jeher ein Liebling der Frauen, jetzt mit seinen Zwei- oder Dreiundfünfzig ein bißchen verfettet und versoffen. Er war weltkundig, sprach meisterlich deutsch, französisch, englisch, war zu Hause in hundert Künsten und Wissenschaften und hatte mit Urteil und Passion ungefähr alle guten Bücher der Weltliteratur gelesen, studiert, geschmeckt. Er war wohl kein Schriftsteller von Belang, aber er war ein Kenner, mit dem zu reden sich lohnte. Er trank viel, auch im Lager; weiß der Himmel, wo er die List und das Geld hernahm, immer wieder seinen Wein aufzutreiben. Er war aus weichem Stoff und ging, so groß und stattlich er aussah, letzten Anstrengungen und mutigen Entscheidungen gern aus dem Wege. Um ein Haar hätte er dann später mit uns entkommen können, aber da fehlte es ihm an Zähigkeit und Entschlußkraft. Er verzettelte seine Intensität in kleiner Geschäftigkeit, in der Beschaffung kleiner Annehmlichkeiten. Aber er war ein Mann von Wissen und Geschmack und von angenehmen Manieren; mit ihm zu schwatzen war Trost und Vergnügen.
Im übrigen kam ich in Gesprächen fast immer auf meine Rechnung, wenn es mir gelang, meine Partner sprechen zu machen über die Geschäfte ihres früheren Alltags, einen Anwalt über seine anwaltlichen Erfahrungen, einen Arzt über seine Wissenschaft und Praxis, einen Terrainhändler über Bodenpreise. Einen großen Teil dessen, was ich über Menschen und Dinge weiß, habe ich der Kunst des Zuhörens zu verdanken, die kluge Lehrer mir früh beibrachten. Im Lager habe ich durch diese Kunst viel erfahren über den Holzhandel in Frankreich, über ein gewisses Fischfutter, dessen Verkauf ein Lagerinsasse monopolisiert hatte, über Schwammfischerei in Griechenland, über die Wirkungen der Arbeit am laufenden Band auf den Arbeiter, über die Technik des Anheizens eines großen Fabrikofens, über die menschliche Seele.
Es gab in unserm Lager viele Maler. Es war da Max Ernst, einer der Begründer des Surrealismus, es war da ein geschätzter, für meinen Geschmack etwas zu effektvoller Porträtist, es gab Maler jeder Art und jeden Ran ges. Es gab viele Ärzte, Vertreter aller Schulen. Es gab katholische Geistliche, sie sahen mit ihren bayrisch oder österreichisch derben Gesichtern in ihren Soutanen wie verkleidet aus. Es gab Leute, die viel erlebt hatten in dem großen Gefängnis, zu dem die Nazis Deutschland gemacht hatten, und in ihren Konzentrationslagern im besonderen. Ihnen allen hörte ich mit Anteilnahme und mit Gewinn zu.
Immer wieder reizt es mich, zu berichten von den zahllosen verschiedenen Gesichtern und verschiedenen Seelen, denen man im Lager begegnete. Wiewohl doch die Lebensbedingungen aller die gleichen waren und wiewohl auch das Aussehen aller sich infolge des Staubes und Schmutzes immer mehr anähnelte, war jedem sein Wesen deutlich aufgeprägt. Man hockte eng aufeinander, man sah jeden in jeder Situation, man wurde, ob man wollte oder nicht, Zeuge, wie jeder einzelne ging und wie er
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