Der Teufel in Frankreich
seiner mittelalterlichen Hansa-Heldenhaftigkeit und seiner Sentimentalität eines der verlogensten Lieder der Welt.) Das verlogene Volkslied kaum verklungen, hieß es wieder: »Bleiben Sie am Apparat, wir haben Ihnen in wenigen Minuten noch eine Sondernachricht zu bringen.« Und nach fünf Minuten von neuem das gemeine Lied und gemeldet wurde: »Deutsche Truppen sind soeben in die belgische Hauptstadt Brüssel eingezogen«, und: »Bleiben Sie am Apparat«, wurde man ein drittes Mal aufgefordert, »wir haben Ihnen bald eine weitere Sondermeldung zu bringen.« Und abermals: »Wir fahren gegen Engeland«, und: »Deutsche Truppen haben soeben die befestigte Seestadt Antwerpen eingenommen.« Und: »Deutschland, Deutschland über alles« und das pöbelhafte Nazi-Lied Horst Wessels.
Dies war einer der trüben Auftakte dessen, wovon wir dann im Konzentrationslager erfuhren. Wir hörten von der Einnahme von Amiens und Arras, von dem Vorrücken der Deutschen überall in Nordfrankreich, von der Einnahme von Boulogne, von Calais. Wir hörten, daß der König von Belgien seiner Armee befohlen hatte, die Waffen zu strecken. Wir hörten von einer Rede, in welcher der französische Ministerpräsident eine Reihe seiner Generäle der Unfähigkeit zieh oder des Verrates und sie absetzte.
Alles das hörten wir in Umrissen, vage. Die wenigen Zeitungen, die wir ergatterten, kamen verspätet, die zensurierten Meldungen verschleierten die Situation. Wir lauschten eifrig auf das wenige, was wir erfuhren, wir kommentierten jedes Wort, wir studierten eingeschmuggelte Landkarten, es gab unter uns zahlreiche Strategen, die darlegten, was, wieso und warum.
Soviel war gewiß: die Nazis drangen vor, die Nazis bedrohten Paris. Und wenn sie Paris nehmen, was wird aus uns? Es war scheußlich, hier im Lager zu sitzen, hilflos, gefangen, nichts unternehmen zu können gegen das näherrückende Unheil, nicht einmal Genaueres darüber zu erfahren.
Man konnte den steigenden Erfolg der Nazis messen an dem Benehmen derjenigen unter uns, die mit ihnen sympathisierten. Sie waren eine winzige Minderheit, sie hatten sich bis jetzt still verhalten: jetzt witterten sie Morgenluft. Weit machten sie den Mund auf und erklärten triumphierend, Paris werde sich unter keinen Umständen halten, es sei aus mit Frankreich. Einer unter den Nazis hielt in seinem Stroh einen kleinen Radioapparat versteckt; höhnisch teilte er uns die Siegesmeldungen der Nazis mit.
Es sah schwarz aus um uns, und die zahlreichen Gerüchte machten unsere Lage noch schwärzer.
Ich selber war überzeugt, daß die Ereignisse in Frankreich, was immer geschehen mochte, den Krieg nicht entscheiden würden. Ich war überzeugt, daß die Hitler-Leute, so große Augenblickserfolge sie gewannen, den Endsieg nie würden erringen können. Sowenig sich die Deutschen im ersten Krieg gegen die ganze vereinigte Welt zu halten vermocht hatten, sowenig – das stand mir mathematisch fest – konnten sie sich in diesem Kriege halten. Ich sagte das meinen Kameraden immer wieder. Ich war überzeugt und überzeugte. Am andern Tag freilich kamen von neuem die Schwarzseher, und ich mußte von neuem überzeugen.
Mehr noch als das, was im Norden geschah, beschäftigte uns alle, beschäftigte ganz Südfrankreich das Problem: Was wird Italien tun? Wird Italien in den Krieg eintreten? Die nächsten italienischen Flug- häfen waren nur eine halbe Flugstunde entfernt. Was wird, wenn Italien den Krieg erklärt, mit uns geschehen?
Bis jetzt, diese ganzen neun Monate hindurch, hatte das Land hier unten vom Kriege nicht viel zu sehen und zu spüren bekommen. Jetzt auf einmal rückte er allen auf die Haut. Die Offiziere gingen mit versperrten, bedrückten Gesichtern herum, die Soldaten waren finster und ängstlich, sie wußten nicht, wie sie sich gegen das neue Übel wehren sollten.
Wir Internierten mußten Unterstände graben, die uns vor den Fliegern schützen sollten. Geleitet wurden diese Arbeiten von einem Unterleutnant, der im Zivilberuf Munizipalsekretär war. Er hatte von dem Geschäft, das ihm da oblag, keine Ahnung. Wir mußten in dem harten Grund der Höfe tiefe Galerien aushauen, die im Zickzack liefen. Aber da nicht viel Raum war, so lief der größte Teil des Grabens in der Nähe des Hauses. Die Sachverständigen unter uns Internierten erklärten, die Anlage sei hoffnungslos dilettantisch. Wer sich während eines Bombardements in einem solchen Unterstand befinde, sei besonders bedroht. Denn treffe eine Bombe
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