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Der Tierarzt kommt

Der Tierarzt kommt

Titel: Der Tierarzt kommt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Herriot
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bellen konnte. Es war eins seiner Lieblingsspiele, und er hatte mich schon einige Male damit erschreckt, aber noch nie so erfolgreich wie jetzt. Ich war mit meinen Gedanken ganz woanders, und der Hund hatte seinen Sprung auf den Bruchteil einer Sekunde berechnet, so daß seine Zähne nur zentimeterweit von meinem Gesicht entfernt waren. Seine Stimme entsprach durchaus seiner Größe: es war ein dröhnendes, markerschütterndes, bulliges Bellen, das sich seiner kräftigen Brust entrang.
    Ich machte einen kleinen Luftsprung, und als ich klopfenden Herzens und mit dröhnendem Kopf wieder landete, blickte ich über die Mauer. Aber wie gewöhnlich sah ich nur noch, wie Sheps Schatten um die Ecke des Hauses verschwand.
    Es war mir ein Rätsel. Warum machte er das nur? War er böse, oder machte er sich nur einen Spaß? Ich kam ihm nie nahe genug, um es herauszufinden.
    So war ich nicht gerade in einem Idealzustand für schlechte Nachrichten, und gerade die erwarteten mich im Kuhstall. Ich brauchte nur das Gesicht des Farmers zu sehen, und schon wußte ich, daß es der Kuh schlechter ging.
    »Es muß ihr was im Darm stecken«, brummte Mr. Bailes trübselig.
    Ich knirschte mit den Zähnen. Für die alten Farmer gab es nur eine Antwort auf alle Arten von Verdauungsstörungen: Verstopfung. »Hat das Öl denn nicht geholfen?«
    »Nein. Sie macht nur so kleine harte Stücke. Richtige Verstopfung, sag ich Ihnen.«
    »Schon gut, Mr. Bailes«, sagte ich mit einem schiefen Lächeln. »Wir müssen es mit etwas Stärkerem versuchen.« Ich hatte aus dem Wagen den Klistierapparat mitgebracht, der inzwischen traurigerweise aus unserem Leben verschwunden ist, mit dem langen Gummischlauch und dem Holzknebel mit den Ledergurten, die man hinter den Hörnern befestigt. Als ich zehn Liter warmes Wasser mit Formalin und Kochsalz in die Kuh pumpte, kam ich mir wie Napoleon vor, der seine alte Garde in Waterloo einsetzt. Wenn das nicht half, war ich am Ende meines Lateins.
    Irgendwie hatte ich nicht das rechte Selbstvertrauen. Der Fall hier war etwas Besonderes. Aber ich mußte es versuchen. Ich mußte etwas unternehmen, um die Verdauung dieser Kuh wieder in Gang zu bringen, denn ihr heutiger Zustand gefiel mir gar nicht. Das leise Knurren war immer noch zu vernehmen, und ihre Augen waren etwas eingesunken – das schlimmste Zeichen bei Rindern. Und vor allem fraß sie jetzt überhaupt nichts mehr.
    Am folgenden Morgen fuhr ich die Dorfstraße hinunter und sah Mrs. Bailes aus dem Krämerladen kommen. Ich hielt an und streckte den Kopf aus dem Fenster.
    »Wie geht es denn Rose heute früh, Mrs. Bailes?«
    Sie stellte ihren Korb auf den Boden und sah mich traurig an.
    »Ach, es geht ihr schlecht, Mr. Herriot. Mein Mann meint, sie macht’s nicht mehr lange. Wenn Sie ihn sehen wollen, müssen sie auf das Feld da draußen. Er richtet gerade die Tür von der kleinen Scheune.« Ich fühlte mich plötzlich elend, als ich zum Gatter am Feld fuhr.
    »Verdammt! Verdammt! Verdammt!« brummte ich, als ich über die Wiese ging. Ich hatte das häßliche Vorgefühl, daß sich hier eine kleine Tragödie anbahnte. Falls dieses Tier starb, war es ein schwerer Schlag für den kleinen Farmer mit seinen zehn Kühen und ein paar Schweinen.
    Und trotz allem schlich sich eine Art Friede in meine Seele. Es war eine große Wiese, und ich sah die Scheune am anderen Ende, als ich durch das kniehohe Gras ging. Bald war Zeit zur Heuernte, und plötzlich wurde mir bewußt, daß es Hochsommer war, daß die Sonne schien und der Klee und das warme Gras dufteten. Irgendwo in der Nähe stand ein Feld mit Saubohnen in voller Blüte, und auch diesen Duft genoß ich mit halbgeschlossenen Augen. Und dann die Stille. Sie war am allertröstlichsten. Sie und das Gefühl, allein zu sein. Ich blickte mich um, und meilenweit schlief das grüne Land unter der Sonne. Nichts regte sich, nichts war zu vernehmen.
    Und da schien sich plötzlich der Boden unter meinen Füßen aufzutun. Einen entsetzlichen Augenblick lang verdunkelte sich der blaue Himmel, als ein roter Rachen mir ein ohrenbetäubendes »Waaah!« ins Gesicht brüllte. Ich schrie vor Schreck und schaute mich um. Da sah ich Shep, der zum Gatter rannte. Er hatte sich mitten im hohen Gras versteckt und gewartet, bis ich ganz in seiner Nähe war, um mich zu überfallen.
    Hatte er zufällig hier gelegen, oder hatte er mich kommen sehen und mir aufgelauert? Falls es so war, konnte er zufrieden sein, denn nichts hatte mich je so erschreckt,

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