Der Tod des Bunny Munro
seine komische Enzyklopädie anstiert. Er sieht ihn zwar, kann aber trotzdem nicht so richtig glauben, dass er da ist. Was will dieser Kleine von ihm? Was soll er mit ihm anfangen? Wer ist er überhaupt? Bunny fühlt sich wie ein erloschener Vulkan, tot und versteinert. Yeah, denkt er, ich fühl mich wie ein erloschener Vulkan – mit einem komischen Kind, um das ich mich kümmern muss, und einer zermatschten Bockwurst als Schwanz.
Bunny lässt den Blick durchs Wohnzimmer schweifen. Er hat sich einige Mühe gegeben, das Chaos zu beseitigen und wieder etwas Ordnung in die Wohnung zu bringen. Dabei hat er erst mal das volle Ausmaß der Zerstörung entdeckt, die seine Frau angerichtet hatte. Seine CDs von Avril Lavigne (sabber), Britney (sabber) und Beyonce (sabber) schwammen zum Beispiel im Spülkasten vom Klo, die Eingeweide seines Bootleg-Videos von Tommy und Pamela (ein Geschenk von seinem Boss Geoffrey) waren herausgerissen und dekorativ um die Schlafzimmerlampe gewickelt worden, und es hatte mehrere erfolglose Versuche gegeben, ein Porträtfoto von ihm, das bei einem Betriebsbesäufnis im The Wick entstanden war, an die Wand zu hängen, wobei sein Gesicht mit einer Gabel aufgespießt werden sollte, deren Zinken einen hysterischen Morsecode auf der Raufasertapete im Bad hinterlassen hatten – Punkt Punkt Punkt, Strich Strich Strich, Punkt Punkt Punkt – leck mich.
Bunny spürt, dass all das in einer vorwurfsvollen Geheimsprache getan wurde. Schuldgefühle wallen in ihm auf, aber er weiß nicht recht, warum. Irgendwie ist das alles nicht fair, findet er. Sie war psychisch krank, Herrgott nochmal. Sie hatte eine Depression. Das haben die Ärzte doch gesagt. Das hatte mit gelegentlichen Aussetzern ihrer Synapsen oder irgend so was zu tun. Und trotzdem fühlt sich das alles so verdammt persönlich an, und dann klopft es an der Tür.
Bunny öffnet und wird von zwei Sozialarbeitern begrüßt – Graeme Soundso und Jennifer Soundso –, die einen unangekündigten und unerbetenen Besuch machen, um nachzusehen, wie Bunny und sein Sohn klarkommen. Bunny ist froh, dass er die Bude ein bisschen in Schuss gebracht hat. Allerdings wäre er gern etwas nüchterner.
»Hallo, kleiner Mann«, sagt Jennifer zu Bunny Junior, und der Junge antwortet ihr mit einem knappen, angespannten Lächeln. »Meinst du, wir könnten kurz mit deinem Dad sprechen?«
Bunny Junior nickt, nimmt die Enzyklopädie und verschwindet in sein Zimmer.
»Ein entzückender Junge«, sagt die Frau und nimmt gegenüber von Bunny Platz. Sie verbreitet den Hauch eines Dufts, der Bunny unheimlich vertraut vorkommt, den er aber nicht einordnen kann.
»Wir wollen Sie gar nicht lange aufhalten«, sagt Graeme, aber irgendwas in seiner Stimme lässt diesen Satz gefühllos und vorwurfsvoll wirken.
Graeme ist ein Hüne mit einem runden, aggressiven Bullenschädel und einem schlimmen Sonnenbrand im Gesicht – ein wandelndes Stoppschild –, und er stellt sich steif und breitbeinig hinter Jennifer, wie die jämmerliche Parodie eines Stasischlägers. Er sagt, er sei der Moderator oder Mediator oder weiß der Geier was, Bunny hört nur halb hin. Er sieht Jennifer an, die, egal wie man es dreht und wendet, eine echte Granate ist. Sie hat nackte Beine und ist offenbar noch nicht lange dabei; ihr Leinenrock und ihre Baumwollbluse sollen ihr einen konservativen, professionell distanzierten Anstrich geben – aber mal im Ernst, wen will sie denn verarschen? Fast wie ein Hellseher weiß Bunny, dass ihr BH mit Sicherheit kein Nullachtfünfzehn-Modell ist, und ihr Slip, na ja, wer weiß, aber so wie sie da vor ihm sitzt und mit dem Knie wackelt, fragt er sich, ob sie überhaupt einen anhat. Er grübelt eine Weile und kommt zu dem Schluss, dass ihr glänzender, eingecremter Unterschenkel ein deutlicher Hinweis auf eine wachsenthaarte Muschi ist – das weiß schließlich jeder, der ein bisschen Ahnung von so was hat. Bunny fallen die Augen zu, und er hört, dass Jennifer ihm ungefähr eine Million Meilen weit weg dazu rät, seelischen Beistand zu suchen, und eine Liste von Trauerberatern, lokalen Selbsthilfegruppen und Unterstützungsvereinen durchgeht. Wie ein grässlicher Krampf kommt plötzlich die Erinnerung daran zurück, was mit seiner Frau geschehen ist, und dann erwischt er die Sozialarbeiterin dabei, wie sie die Schenkel zusammenpresst. Jennifer versickert und trocknet aus.
Bunny gibt kaum mehr als einsilbige Antworten. Er wird immer misstrauischer gegenüber Graeme,
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