Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Tod des Bunny Munro

Der Tod des Bunny Munro

Titel: Der Tod des Bunny Munro Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Cave
Vom Netzwerk:
unwillkürlich an ihr Muttermal.
    Bunny bläst auf seine Hand. »Und gleich erzählst du mir, dass du an einem Fluss geboren wurdest«, sagt er, prustet los und klopft auf die Falten vorn an seiner Hose. Diese Bemerkung sorgt für allgemeine Verwirrung, alle sehen zu Boden, und Bunny hofft, dass Poodle nicht das ganze Speed gezogen hat.
    »Ja, wen haben wir denn da?«, fragt River.
    Bunny Junior ist wie ein kleiner Geist im Flur aufgetaucht, die Hände unter den Achseln. River verwuschelt ihm das Haar, und als sie von ihm ablässt, versucht der Junge, es wieder glatt zu streichen.
    »Das ist Bunny Junior«, sagt Bunny. »Mein Sohn.«
    Der Kleine zeigt mit dem Daumen auf seinen Vater und sagt mit einem schmalen Lächeln: »Und das ist mein Dad.«
    Alle lachen, und das irritiert Bunny Junior, denn was er sagt, stimmt ja schließlich. Das ist das Wesentliche für Bunny Junior. Er liebt seinen Dad. Für ihn gibt es keinen besseren, klügeren oder tüchtigeren Dad, und er steht neben ihm mit einem Gefühl von Stolz – das ist mein Dad –, und natürlich steht er auch neben ihm, weil er nicht weiß, wo er sonst hingehen sollte.
    »Oh, ist der süß«, flötet River und wuschelt ihm noch einmal durchs Haar. »Wenn du nur ein paar Jahre älter wärst …«
    Die Badezimmertür fliegt auf und Poodle schießt heraus, mit gebleckten Zähnen und einem Funkeln in den Augen. Er zieht den Handrücken unter der Nase entlang und sagt: »Mensch, River, der Kleine ist neun.«
    River kneift Bunny Junior in die Wange. »Weiß ich doch. Ich meine ja nur …«
    »Lass es einfach«, entgegnet Poodle. Seine gelbe Haartolle strahlt jetzt irgendwie noch mehr als vorher – sie funkelt geradezu, und Poodle dreht sich um und sagt: »Pass mal auf, River! Nenn mir mal ein Land … irgendein Land …«
    »Was?«, fragt River.
    »Sag halt einfach mal irgendein Land. Mannomann …«, sagt Poodle und zwinkert Bunny Junior zu.
    »Na schön«, erwidert River, »die Mongolei.«
    »Okay, Bunny Boy, jetzt mach deinem Onkel Poodle keine Schande. Wie heißt die Hauptstadt der Mongolei?«
    Bunny Junior zieht ein gespieltes Grübelgesicht, schaut an die Decke, streicht sich übers Kinn und kratzt sich am Kopf.
    »Ulan-Bator«, sagt der Junge, und alle klatschen.
    »Und Grips hat er auch«, sagt River und legt dem Jungen die Hand in den Nacken, und er spürt eine pulsierende, ölige Hitze, die er nicht kennt.
    »Früher hieß sie Urga«, ergänzt Bunny Junior leise.
    »Grips?«, fragt Poodle. »Der Kleine ist ein Genie, verdammte Scheiße!«
    River hält Bunny Junior mit ihren heißen Händen schnell die Ohren zu und sagt: »He! Nicht solche Ausdrücke!«
    »Sollen wir reingehen?«, fragt Bunny.
    Die Erwachsenen gehen ins Wohnzimmer, und Bunny Junior hört, wie Poodle River zuflüstert: »Mann, das ist ja düster hier wie in einem Grab. Wo sind denn die Glühbirnen geblieben?«
    River stößt ihm den Ellbogen in die Rippen und flüstert zurück: »Mensch, Poo, der Kerl hat gerade seine Frau verloren. Was erwartest du denn, eine Discokugel oder was?«
     
    Später am Abend liegt Bunny Junior auf seinem Bett, starrt an die Decke und betrachtet die grün leuchtenden Planeten, die sich über seinem Kopf drehen. Wie in Trance beobachtet er, wie gespenstische Lichtreflexe über die Decke wandern und die Wände hinabgleiten. Er geht im Kopf alles durch, was er über Pluto weiß – zum Beispiel, dass er hauptsächlich aus Eis und Gestein besteht und relativ klein ist; er hat nur etwa ein Fünftel der Masse des Mondes und ein Drittel seines Volumens –, und nach einer Weile hält er seine Armbanduhr ans Ohr und lauscht dem lauten, unaufhaltsamen Verstreichen der Zeit. Ihm kommt der Gedanke, dass die Erinnerung an seine Mutter mit jedem Ticken der Uhr schwächer wird und schließlich ganz verblasst. Allein dadurch, dass er einfach nur daliegt, verliert er sie allmählich, Stück für Stück, und ein eisiger Wind weht durch sein Herz. Er schließt die entzündeten, unruhigen Augen, durchforstet einigermaßen erfolgreich sein Gedächtnis und versucht, Bilder von ihr heraufzubeschwören. Vielleicht kann er so verhindern, dass sie ihm ganz entgleitet. Tief im Inneren wünscht er sich, er könnte sie durch seine Erinnerung wieder zum Leben erwecken.
    Er weiß noch, wie sie ihn in ihrem rosa Samt-Jogginganzug von der Schule abholte, die schönste von allen Müttern, oder wie sie sich liebevoll um seine blutige Nase kümmerte, und noch dunkler glaubt er sich zu erinnern, wie

Weitere Kostenlose Bücher