Der Tod des Bunny Munro
sie klatschte, als er zum ersten Mal freihändig Fahrrad fuhr. Er weiß noch, wie sie ihm die Enzyklopädie schenkte, einfach nur, weil sie ihn »zum Fressen gern« hatte, und in einer noch ferneren, blasseren Erinnerung krabbelt er über den Küchenboden, klammert sich an ihrem langen, glatten Bein fest und spürt ihre überraschende Kraft, als sie ihn mit sich über den Boden zieht. Er stellt sich vor – ist das eine Erinnerung? –, wie er als Neugeborener in Windeln in eine Decke gewickelt war, ihre kühle Hand auf der Stirn spürte und in der Nähe einen dunklen Fleck sah, der wohl sein Vater gewesen sein muss.
Es dauert nicht lange, da kehrt seine Mutter zu ihm zurück, und der Junge spürt ihre Anwesenheit bei sich im Zimmer. Die Luft gerät in Bewegung, die Leuchtplaneten drehen sich mit neuem Schwung, und die feenhaften Lichtflecke gleiten so schnell die Wände hinab, dass sie aussehen wie gespenstischer grüner Regen.
»Kann man denn hier nicht mal schlafen?«, sagt Bunny Junior laut.
Dann bricht im Wohnzimmer heiseres Gelächter los, und er sagt es noch einmal, mit drei Sekunden Pause zwischen jedem Wort.
»Kann … man … denn … hier … nicht … mal … schlafen?«
Dann lächelt er, denn er weiß instinktiv, dass sein Dad wahrscheinlich gerade was echt Lustiges vom Stapel gelassen hat. Er strampelt die Bettdecke weg und schlüpft in seine Hausschuhe.
10
Bunny sitzt zusammengesackt auf dem Sofa im Wohnzimmer, abgefüllt mit Geoffreys Scotch und zugedröhnt mit Poodles Koks. Seine Stimmung ist im Arsch, und er weiß nicht genau, warum. Er hat versucht, sich die Muschi von Poodles River vorzustellen, aber es klappt einfach nicht. River sitzt ihm gegenüber, und jedes Mal, wenn sie über Poodle lacht – er hat einen Wikingerhelm aus Plastik aufgesetzt, der ziemlich sicher Bunny Junior gehört –, schwingt ihr linkes Knie auf wie ein kaputtes Scheunentor, und ihr kanariengelber Slip leuchtet Bunny wie eine Flagge entgegen. Normalerweise würde das genügen, um ihn in einen Zustand beinahe religiöser Verzückung zu versetzen, aber sein sonst so verlässliches Einbahnstraßenhirn nimmt andauernd Umwege über die entsetzlich lange Strecke der Erinnerung. Obwohl er also mit schweren Lidern und hängendem Kiefer zwischen Rivers gebräunte, muskulöse Beine starrt, wo sich das Relief ihrer Muschi auf dem Slip abzeichnet, wandern seine Gedanken zurück, sagen wir mal in die Zeit, als er mit seiner jungen, hochschwangeren Frau Libby am Kiesstrand von Hove saß. Unter einem gelben Vollmond an einer Betonbuhne lehnend, hatte sie die Bluse gehoben und ihren strammen, runden Babybauch enthüllt, und eine Ferse des Ungeborenen glitt unheimlich über die lila geäderte, perlmuttartige Haut.
»Mein Gott, Bun, bist du bereit für das alles?«, hatte Libby gefragt.
Bunny hatte mit Daumen und Zeigefinger in die Ferse des Fötus gekniffen und gesagt: »Du redest mit Bunny Munro, Baby, du musst mich erst mal in Action erleben!«
Vielleicht liegt es daran, dass es so ein Libby-zentrischer Tag ist, aber diese Erinnerung macht Bunny traurig und unsicher.
Er kriegt mit, wie Barbara, die schon fast zwei Flaschen Spumante intus hat, etwas zu Raymond sagt, der hackedicht ist und höchstwahrscheinlich schläft.
»Ein Junge braucht seinen Vater. Mensch, Raymond, manche Kinder haben noch nicht mal einen«, lallt sie.
Raymond, den Mund offen und die Augen geschlossen, hebt plötzlich einen Zeigefinger, als wolle er etwas Wichtiges sagen, lässt ihn aber dann rätselhaft und später vielleicht obszön kreisen, immer weiter, und Barbara wendet ihre Aufmerksamkeit Bunny zu und sagt: »Wenigstens hat er dich, Bunny.«
River nickt zustimmend, leckt über das purpurne Muttermal auf ihrer Oberlippe, sieht Bunny in die Augen und lässt das Scheunentor weit aufschwingen .
»Du Armer«, sagt sie.
Bunnys Augen füllen sich mit Tränen, und er hört sich verträumt und ohne Zusammenhang sagen: »Mein Dad hat mich praktisch allein großgezogen. Mir alles beigebracht, was ich weiß.«
Poodle will aufstehen, in der Hand eine fast leere Flasche Scotch, und erstarrt halb in der Hocke, weil er vergessen hat, was er überhaupt wollte. Er sieht sich argwöhnisch um und lässt sich wieder neben Bunny aufs Sofa plumpsen.
»Ja, und jetzt guck dir an, was aus dir geworden ist«, sagt er und entblößt mit einem wölfischen Grinsen seine nadelspitzen Zähne.
In Zeitlupe registriert Bunny diese Bemerkung und sagt, plötzlich bitterernst:
Weitere Kostenlose Bücher