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Der Tod des Bunny Munro

Der Tod des Bunny Munro

Titel: Der Tod des Bunny Munro Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Cave
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schlechtes Omen –, aber er setzt sich und stellt den Musterkoffer vor sich auf den Chippendale-Tisch. Zu seiner Überraschung fällt ihm auf, dass darauf ein klobiges Transistorradio steht, das schon die ganze Zeit klassische Musik spielt.
    Mrs. Brooks gerät in Verzückung, sie wiegt sich vor und zurück und sagt voller Ehrfurcht: »Beethoven. Außer Bach kann ihm keiner das Wasser reichen. Um Längen besser als Mozart. Beethoven hatte ein tief greifendes Verständnis für das Leiden. Man spürt seinen unerschütterlichen Glauben an Gott und seine rasende Liebe zur Welt.«
    »Das ist mir alles ein bisschen zu hoch«, erwidert Bunny. »Ich bin bloß ein einfacher Malocher.«
    »Auden hat alles gesagt. ›Wir müssen einander lieben oder sterben.‹«
    Mrs. Brooks unförmige Hände zucken auf den Armlehnen des Sessels wie außerirdische Spinnen, und ihre Ringe klickern beunruhigend. Von draußen dringt das Gezeter der Möwen und das tiefe Brummen des Verkehrs auf der Küstenstraße herein.
    »Haben Sie Auden gelesen, Mr. Munro?«
    Bunny verdreht die Augen und lässt seufzend seinen Musterkoffer aufschnappen.
    »Bunny«, sagt er. »Nennen Sie mich Bunny.«
    »Haben Sie Auden gelesen, Bunny?«
    Bunny spürt, dass sich der Ärger wie eine Nadel in den Nerv über seinem linken Auge bohrt.
    »Nur an Halloween, Mrs. Brooks«, antwortet Bunny, und die alte Dame lacht wie ein kleines Mädchen.
     
    Der Punto steht an der Marine Parade, und Bunny Junior lehnt den Kopf ans Fenster, beobachtet den gleichmäßigen Strom der Passanten und fragt sich, was genau er da tut. Er hat das Gefühl, dass die Geduldsregel mittlerweile sitzt, und fragt sich, wann ihm sein Vater das eigentliche Verkaufen beibringt. Er hält es nicht nur für möglich, dass er wegen fortgeschrittener Lidrandentzündung bald erblindet, sondern dass er darüber hinaus verrückt wird, und er hat in seiner Enzyklopädie das Wort »Luftspiegelung« nachgeschlagen und gelesen: »Eine durch Brechung der Lichtstrahlen an verschieden dichten Luftschichten verursachte optische Täuschung, bei der ein Objekt am Horizont auf dem Kopf stehend oder verzerrt wahrgenommen wird.« Er hat auch unter »Erscheinung« nachgesehen – »Die visuelle Erfahrung, eine nicht anwesende (lebende oder tote) Person zu sehen« –, aber nichts davon leuchtet ihm so richtig ein. Er glaubt mittlerweile, dass seine Mutter ihn sucht und ihm etwas Wichtiges mitteilen will, und wenn er bleibt, wo er ist, wird sie ihn schon rechtzeitig finden. Er ist froh, dass er die Geduldsregel gelernt hat. Sie hat ihm schon geholfen. Außerdem wollte er seiner Mutter irgendwas sagen, aber es fällt ihm nicht mehr ein, weil er zu hungrig ist.
    Hätte er doch bloß mittags in dem Café seine Hackfleischpastete gegessen! Ein paar Jugendliche schlurfen vorbei und stopfen sich eine Handvoll Pommes nach der anderen in die Löcher ihrer Kapuzen, und aus Bunny Juniors Magengrube kommt ein hungriges Grummeln.
    Er dreht sich um und sieht mit seinen brennenden Augen auf der anderen Seite der Promenade eine Bude, auf deren bonbongestreifter Markise groß ›FISH AND CHIPS‹ steht. Der Seewind weht einen irren Hauch von frittierten Kartoffeln und Essig herüber, und Bunny Junior schließt die Augen und atmet tief ein. Was auch immer er für ein Tier im Bauch hat, es heult noch einmal demonstrativ auf.
    Bunny Junior weiß, dass er das Auto nicht verlassen darf, aber allmählich macht er sich ernsthafte Sorgen, dass er verhungert, wenn er nicht bald etwas isst. Er hat drei Ein-Pfund-Münzen in der Hosentasche. Irgendwie amüsiert es ihn, als er sich vorstellt, wie sein Vater zurückkommt und ihn tot im Punto findet. Was würde das über seine Geduldsregel aussagen? Der Junge bleibt sitzen und zählt bis hundert. Dann blickt er erst über die eine Schulter, dann über die andere, öffnet die Autotür, steigt aus und lässt die Münzen in seiner Tasche klimpern.
    Runter zum Fußgängerüberweg und dann über die Straße – allerhöchstens zwei Minuten, überlegt er. Eine jähe Welle der Panik rollt seine Beinnerven hoch und schwappt in seinen Magen, und er legt die Hand auf die Brust und spürt durch das Hemd sein Herz pochen. Dann senkt er den Kopf und geht los.
    Als er an der Fußgängerampel ankommt, blinkt gerade das rote Männchen auf, und er wartet geschlagene drei Minuten auf das grüne. Währenddessen nähert sich ihm ein Mann in einer weißen Jogginghose und einem weißen Polohemd. Er hat gezupfte Augenbrauen und

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