Der Tod hat einen Namen
schrie sie auf.
Die Vision verblaßte. Der Himmel nahm wieder seine blaue Farbe an. Weiße Wolken zogen über das Meer. Pamela hörte das Rauschen der Brandung. "Dinah! Dinah!" schrie sie ihr zuzurufen.
Benommen verließ die junge Frau den Pavillon und trat an die Klippen. Sie hatte schreckliche Kopfschmerzen. Noch immer glaubte sie Dinahs Schrei zu hören.
"Da, stecken Sie also?"
Pamela wandte sich um. "Ach, Sie sind es, Victor", sagte sie fast teilnahmslos, weil sie sich nicht so plötzlich von ihrem Erlebnis lösen konnte.
"Ich bin auch schon einmal freudiger begrüßt worden", b eschwerte er sich und trat neben die Pianistin. Er hielt eine Hand hinter dem Rücken verborgen. "Was haben Sie?" fragte er.
"Stimmt etwas nicht?"
Pamela schenkte ihm ein Lächeln. "Nein, es ist alles in Ordnung", behauptete sie. "Ich war nur etwas in Gedanken." Sie wollte mit Victor noch nicht über ihre Vision sprechen. Sie wußte, daß er ihr nicht recht glaubte, sondern genau wie sein Vater meinte, sie hätte in jener Nacht nur geträumt.
Der junge Arzt sah sie an. "Sie können mir nichts vormachen, Pamela", meinte er. "Irgend etwas ist geschehen?" Er berührte mit der linken Hand ihr Gesicht. "Hängt es mit Dinah zusammen?"
Pamela brachte es nicht fertig, ihn zu belügen. "Ich hörte sie schreien", sagte sie leise, "und ich habe Hände gesehen, die nach ihr griffen." Sie strich sich über die Stirn. Sie hatte noch immer Kopfschmerzen.
"Sie sollten sich wegen Ihrer Kopfschmerzen endlich unters uchen lassen", meinte Dr. Callison.
"Woher wissen Sie davon?"
"Vergessen Sie nicht, ich bin Arzt", bemerkte er. "Natürlich könnte ich Ihnen etwas gegen die Kopfschmerzen geben, nur auf die Dauer ist das keine Lösung." Er reichte ihr die Rose, die er bis dahin hinter seinem Rücken verborgen gehalten hatte. "Ich weiß, daß Sie Rosen lieben", sagte er. "Von meinem Fenster aus habe ich erst neulich beobachtet, wie Sie durch meinen Rosengarten gegangen sind."
"Danke, die Rose ist wunderschön", meinte Pamela überwä ltigt. Sie wußte von Kathleen, daß Victor es haßte, eine seiner Rosen abzuschneiden, dennoch hatte er ihr eine geschenkt.
"Bitte, halten Sie einen Moment still, Pamela." Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und blickte ihr in die Augen. "Ich verstehe mich ein wenig auf Irisdiagnostik", erklärte er. "Nein, bei Ihnen kann ich nichts erke nnen." Er ließ die Hände sinken.
"Mir fehlt auch nichts", meinte die Pianistin und wollte ihm schon sagen, daß ihre Kopfschmerzen mit Dinahs Sinfonie z usammenhingen, doch sie befürchtete ausgelacht zu werden.
"Gehen wir ein Stückchen am Wasser spazieren", schlug er vor. "Ich habe einen ziemlich harten Tag hinter mir."
"Möchten Sie darüber sprechen?"
"Sind Sie sicher, daß Sie meine Klagen hören wollen?"
Pamela blickte auf die Rose. "Sollten Freude nicht alles teilen?" fragte sie.
"Danke", sagte er. "Das ist das Schönste, was mich heute j emand gefragt hat." Er legte den Arm um die junge Frau und führte sie zum Meer hinunter.
12.
Die nächsten beiden Wochen verstrichen ereignislos. Abges ehen, daß Pamela hin und wieder Visionen hatte, in denen stets ein junges Mädchen von großen Händen gepackt wurde, und die Dinahs Anwesenheit spürte, kam sie nicht einen Schritt weiter. Immer wieder zog sie sich in den Ballsaal zurück und spielte auf dem Steinway Dinahs Sinfonie. Sie hoffte, daß sich ihr Dinah während des Spiels zeigen würde, doch nur ihre Kopfschmerzen verstärkten sich. Manchmal glaubte die junge Frau, sie nicht mehr ertragen zu können. Meistens begann sie schon am Morgen Schmerztabletten zu nehmen. Wäre Victor nicht gewesen, sie hätte wahrscheinlich ihre Sachen gepackt und wäre abgereist.
Der junge Arzt und sie waren bald unzertrennlich. Wann i mmer es Victors Zeit zuließ, machte er mit ihr Ausflüge in die Umgebung. Manchmal begleitete sie ihn auch nach Newquay. Einmal hatten sie nahe dem Strandhaus, das früher ihrer Familie gehört hatte, in einem Café Eis gegessen. Mit Victor an der Seite, war es Pamela nicht schwergefallen, die Stätte ihrer Kindheit aufzusuchen.
"Sie sind noch nicht weitergekommen, nicht wahr", meinte Kathleen Callison an diesem Nachmittag. Sie gingen entlang der Klippen spazieren. "Machen Sie sich deswegen keine Vorwürfe, Miß Lindsay." Ein schmerzliches Lächeln zuckte um ihre Lippen. "Mein Mann hält uns ohnehin für ve rrückt."
"Er hat es mir deutlich zu verstehen gegeben", erwiderte P amela. "Wollen Sie, daß ich
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