Der Tod kann warten: Kriminalroman (Sandner-Krimis) (German Edition)
ein ansässiger Kollege. Einer der wenigen ohne Regenmantel.
»Schaut, dass die Leut verschwinden, und stellt einen Sichtschutz auf. Schnell. Ich hab keine Lust, das alles auf Youtube zu sehen.«
»Alles klar, Mam«, meint er und tippt an seine Mütze. Zu viel amerikanischen Trash geglotzt, der Gute. Er stolziert breitbeinig auf die Menschenansammlung zu und brüllt so, dass jedermann die Ohren anlegt. Ein verständlicher Text ist nicht von Belang. Tatsächlich zerstreut sich die Menge. Der hätte das Zeug zum Platzanweiser beim Weltuntergang. Kennt wohl seine Pappenheimer – zumindest bekommt er Respekt aus guter alter Gendarmenzeit. Der Sheriff ist in der Stadt.
Die Wiesner zuckt mit den Schultern. Hauptsache, es hilft. Gerade will sie sich wieder der Leiche zuwenden, da gibt es doch Tumult. Eine kreischende, um sich schlagende Frau wird von Polizisten daran gehindert, sich bis zum Tatort durchzukämpfen. Außer Rand und Band. Ihr gelingt es, einen der Beamten mit einem tückischen Kniestoß auszuschalten und sich loszureißen. Selbst unbeteiligte Zuschauer verziehen, von Phantomschmerz überfallen, die Visagen – zumindest die sensiblen, männlichen. Der Kollege sinkt zu Boden.
Fast hätte die Frau es geschafft durchzubrechen, da wird sie vom diensteifrigen Sheriff umfasst. Ihr gelingt kein Touchdown. Ungerührt lässt er sie trampeln und toben. Sie kommt nicht aus seiner Umklammerung frei. Die Leute rücken näher. Endlich das erhoffte Spektakel.
»Heimbringen?«, ruft der Polizist der Wiesner zu.
Die nickt ihm zu. Es wird die Frau des Toten sein.
Die Frau zappelt noch etwas in seinen Armen, dann erlischt ihr Widerstand. Er redet auf sie ein. Offenbar findet er den passenden Ton. Schluchzend hängt sie an seiner Schulter. Er lässt sie gewähren. Nicht jeder der Kollegen würde sich so mitfühlend auf das Geschehen einlassen, denkt die Wiesner. Das kennt sie auch anders. Jetzt streicht der Beamte der Frau tröstend übers Haar. Scheint neben dem coolen Gehabe doch ganz brauchbar zu sein, der Dicke. Ein blasser Jugendlicher steht daneben, die Hände in den Taschen, den Blick starr. Seine schwarze Jacke kommt der Wiesner bekannt vor. Sanft führt der Sheriff die beiden zu einem Streifenwagen, während er weiter auf sie einspricht. Keine leichte Aufgabe, mit den Angehörigen eines Mordopfers umzugehen. Der Mann hat das richtige Händchen. Er schaut zur Wiesner. Die nickt ihm zu.
Gefilmt von Gaffern bugsiert der füllige Polizist die beiden ins Auto. Die Ermittlerin hätte Lust, die Handys einzukassieren und zerstampfen zu lassen. Polizeiwillkür oder täglich eine gute Tat? Was willst du erwarten, wenn Gedanken flach wie ein Display daherkommen? Einer vom Spusiteam fährt den weißen Kleinbus als Paravent vor die Absperrung.
U m die Geisterstunde hockt neben dem Brauner immer noch der Jonny auf der Couch. Niemand will schlafen gehen. Das Fotoalbum liegt aufgeschlagen auf dem Tisch. Als wäre es eine Mahnung. Frau Brauner, anno Zweitausendsieben bei irgendeiner Beerdigung. Im Hintergrund ein mit Kränzen bedecktes Grab. Auf einen Stock gestützt, in einen schwarzen Mantel verhüllt, wirft die Frau dem Fotografen einen verkniffenen Blick zu. Als wäre der unwillkommen wie ein Grippevirus. Ein ausgestreckter Arm, der von links ins Bild ragt, hält einen Regenschirm über sie. Wahrscheinlich gehört der zum Sohnemann. Bild mit Symbolcharakter.
Die neusten Nachrichten aus dem Harthof sind verwirrend. Zwischen dem Toten und dem Wessold hat es offenbar eine dubiose Verbindung gegeben. Keiner weiß, was der Mord an Yilmaz für die Entführer bedeutet. Sind die Karten neu gemischt, oder ist es nicht von Belang? Der Tod hat wieder Einzug gehalten im Viertel, wie schon vor fünf Jahren. Gutes oder schlechtes Omen für das Überleben von Brauners Mutter?
Ihr Sohn hat pragmatisch gemeint, man könnte diesem Yilmaz den Mord am Wessold anhängen. Dann gäbe es keine Verluste. Einen Toten würde es nicht jucken. Die beiden Männer warten gespannt, ob es eine neue Nachricht von den Entführern gäbe. Vielleicht diesmal ein längerer Text. Immerhin wissen sie, dass Brauners Mutter wahrscheinlich nicht am Polarkreis festgehalten wird. Die Phonetiker hatten einen Amselruf isoliert. Innerhalb deren Verbreitungsgebietes sollte der Anruf getätigt worden sein. Falls sich kein Inuit eine Amsel im Vogelbauer hält. Interessanter ist die Tatsache, dass der Mann zwischen dreißig und sechzig offenbar mit oberbayrisch
Weitere Kostenlose Bücher