Der Tod kommt nach Pemberley: Kriminalroman (German Edition)
dass mir meine Mutter half, die Treppe hinaufzugehen und mich wieder ins Bett zu legen, und dass sie mit mir schimpfte, weil ich so dumm gewesen war, aufzustehen. Von meiner Begegnung mit dem Offizier erzählte ich nichts. Am nächsten Morgen erfuhr ich, dass Colonel Fitzwilliam nachts ins Cottage gekommen war und meiner Mutter von den beiden vermissten Gentlemen erzählte, aber das hatte ich nicht bemerkt.
Selbst nach der Ankündigung, dass man Mr. Wickham vor Gericht stellen wird, verschwieg ich, was geschehen war, und auch die Monate über, in denen er in London einsaß, behielt ich alles für mich. Aber ich wusste, dass ich dieses Geständnis würde ablegen müssen, damit die Wahrheit ans Licht kam, falls man ihn schuldig sprechen sollte. Ich beschloss, mich Reverend Oliphant anzuvertrauen, der mir sagte, dass Mr. Wickhams Prozess in wenigen Tagen stattfinden würde und ich das Geständnis sofort niederschreiben müsste, damit es noch vor dem Beginn der Verhandlung im Gericht eintreffen würde. Mr. Oliphant bat sofort Dr. McFee dazu, und heute Abend habe ich den beiden Gentlemen alles gestanden und Dr. McFee gefragt, wie lange ich noch zu leben habe. Er wüsste es nicht genau, sagte er, aber länger als eine Woche wird es jetzt wohl nicht mehr dauern. Auch er hat mich gedrängt, das Geständnis abzulegen und zu unterschreiben, was ich hiermit tue. Was ich geschrieben habe, ist die reine Wahrheit, gesprochen in der Gewissheit, dass ich mich bald vor dem Thron Gottes für alle meine Sünden werde verantworten müssen, und in der Hoffnung, Seiner Gnade teilhaftig zu werden.
»Um dieses Geständnis zu schreiben«, sagte Dr. McFee, »benötigte er über zwei Stunden, und es gelang ihm nur mit Hilfe eines von mir verabreichten Tranks. Er wusste, dass sein Tod kurz bevorstand, und Reverend Oliphant und ich waren überzeugt, dass er die reine Wahrheit schrieb.«
Einige Sekunden lang herrschte Schweigen. Dann schallten wieder Rufe durch den Gerichtssaal, die Leute sprangen auf, brüllten und stampften, und einige Männer stimmten einen Sprechgesang an, den die Menge aufgriff, bis alle gemeinsam »Lasst ihn gehen! Lasst ihn gehen! Lasst ihn frei!« schrien. Rings um die Anklagebank standen jetzt so viele Wachtmeister und Gerichtsdiener, dass man Wickham kaum noch sah.
Wieder rief die Stentorstimme alle zur Ordnung. Dann wandte sich der Richter an Dr. McFee: »Können Sie mir sagen, warum Sie dem Gericht dieses wichtige Dokument erst im letzten Moment vorgelegt haben, unmittelbar vor der Urteilsverkündung? Dass es auf so unnötig dramatische Weise eintraf, beleidigt mich und das ganze Gericht – ich fordere eine Erklärung!«
»Es tut uns aufrichtig leid, My Lord«, erwiderte Dr. McFee. »Das Schreiben wurde vor drei Tagen verfasst, als Reverend Oliphant und ich das Geständnis spätnachts zu hören bekamen. Am nächsten Morgen machten wir uns in aller Frühe mit meiner Kutsche auf den Weg nach London und legten nur kurze Pausen ein, um etwas zu essen und die Pferde zu tränken. Reverend Oliphant, der nunmehr über sechzig Jahre zählt, ist, wie Sie sehen, vollkommen erschöpft.«
Mürrisch entgegnete der Richter: »In viel zu vielen Verhandlungen trifft wichtiges Beweismaterial zu spät ein. Es scheint jedoch nicht an Ihnen gelegen zu haben, und ich nehme Ihre Entschuldigung an. Ich werde jetzt mit meinen Beratern besprechen, was als Nächstes zu tun ist. Der Angeklagte wird fürs Erste in das Gefängnis zurückgebracht, in dem er inhaftiert war. Der Innenminister, der Justizminister, der Lord Oberrichter und weitere hohe Justizbeamte werden über eine königliche Begnadigung beratschlagen, die von der Krone erteilt werden könnte. Als erkennender Richter habe auch ich eine Stimme bei der Entscheidung. In Anbetracht dieses Dokuments werde ich kein Strafmaß verkünden, doch das Urteil der Geschworenen bleibt bestehen. Seien Sie versichert, Gentlemen, dass englische Gerichte keinen Menschen zum Tode verurteilen, dessen Unschuld erwiesen ist.«
Unter leisem Gemurmel begann sich der Saal zu leeren. Wickham stand da und umklammerte mit weißen Knöcheln die Kante der Anklagebank, stumm und bleich, fast in Trance. Einer der Wachtmeister löste nacheinander alle seine Finger wie bei einem Kind. Schweigend teilte sich die Menge und machte zwischen der Anklagebank und einer Seitentür den Weg frei, auf dem sich Wickham, ohne einen Blick zurückzuwerfen, zu seiner Zelle führen ließ.
Sechstes Buch
Gracechurch
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