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Der Tod meiner Schwester

Der Tod meiner Schwester

Titel: Der Tod meiner Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diane Chamberlain
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eine Angst zu überwinden”, erklärte Mr. Chapman. “Einfach hineinspringen. Siehst du, Lucy? Du warst im tiefen Wasser und bist nicht ertrunken. Du bist gleich an die Oberfläche gekommen.” Seine Stimme klang freundlich, doch ich sollte mich nie wieder in seine Nähe wagen.
    Meine Mutter trug mich halb zu der Schräge, wo sie mich auf die Füße stellte und meinen Arm nahm. Gemeinsam kletterten wir auf dem schleimigen Algenbelag hinauf, und erst da bemerkte ich, dass auch sie weinte. Als wir oben waren, ließ sie meinen Arm los, ging zu Mr. Chapman hinüber und boxte ihn mit aller Kraft auf die Schulter. “Wie kannst du es wagen!”
    Mr. Chapman rieb sich die Schulter. “Wenn du sie zu einem Psychiater bringen würdest – was vielleicht gar keine schlechte Idee ist –, würde er dir genau das empfehlen, was ich gerade getan habe.”
    Meine Mutter griff nach meiner Hand. “Sie ist nicht deine Tochter!”, warf sie ihm vor und ging mit mir zu unserem Haus. Niemals hatte ich sie so wütend erlebt. Ich spürte ihre Wut bis in meine Finger, die sie drückte. Über die Schulter rief sie zurück: “Untersteh dich, jemals wieder eines meiner Kinder anzufassen!”
    Daheim war sogar mir klar, dass ich aus dem traumatischen Vorfall das Beste herausholte. Grandma verwöhnte mich und half mir aus meinem nassen Badeanzug, während ich mich über die schreckliche Behandlung durch unseren Nachbarn beklagte. Sie rieb mich am ganzen Körper mit dem Puder aus ihrer speziellen rosa Dose mit dem Kaschmir-Duft ein und zog mir dann meinen grünen Lieblingsschlafanzug an. Ich hörte, wie meine Mutter meinem Großvater erzählte, was geschehen war, und wie Grandpop sie zu beruhigen versuchte. Ich durfte lange aufbleiben und mit meiner Plastikgeige spielen, und Julie musste mit mir zusammen ins Bett gehen, damit ich schlafen konnte, ohne Albträume zu bekommen wegen dieses Lumpens, der aussah wie ein Kopf.
    Als ich neun war, sprang ich in den Swimmingpool unserer Nachbarn und fing an zu schwimmen. Ich hatte so viele Stunden gehabt, dass ich die Bewegung auswendig konnte. Ich brauchte nur Übung – und den Mut, der sich einstellte, nachdem ich das Schlimmste überlebt hatte, was geschehen konnte: den Tod meiner Schwester.

16. KAPITEL
    M aria
    1927–1939
    Es ist merkwürdig, wie man sich gegen Ende seines Lebens dabei ertappt, dass man über den Anfang nachdenkt. Ich war erst fünf, als meine Eltern und ich den ersten Sommer in dem Bungalow verbrachten. Der Kanal war damals noch ganz neu, er war erst im Jahr zuvor fertiggestellt worden. Zu der Zeit gab es nur wenige Häuser in Bay Head Shores, und jeder kannte jeden. Insofern war es anfangs wohl schwierig für meine Mutter, Freunde zu finden. Mit ihrem exotischen Aussehen und ihrem italienischen Akzent war Rosa Foley eine Kuriosität in dem Nest, doch mein Vater war so typisch amerikanisch, dass wir uns schnell mit den anderen Familien und ihren Kindern bekannt machten und ich rasch mehrere Spielkameraden fand.
    Als ich acht oder neun war, zog Ross Chapman nebenan ein und wurde mein bester Freund. Wir angelten zusammen am Kanal und schwammen in der Bucht. Er brachte mir das Tennisspielen bei, als ich elf war, und ich ihm das Tanzen, als ich zwölf war. Den Rest des Jahres lebten die Chapmans in Princeton, während wir in Westfield wohnten, sodass Ross und ich uns in diesen Monaten nicht sahen und uns auch keine Briefe schrieben. Im Sommer aber knüpften wir immer dort an, wo wir im Jahr zuvor aufgehört hatten.
    In dem Sommer, als ich vierzehn war, begann ich Ross mit anderen Augen zu sehen. Er war groß und schlaksig geworden, ich fand ihn sehr attraktiv, und auch wenn er und ich noch immer Kumpel waren, stellte ich mir gern vor, er wäre mehr als das. Sogar während des Schuljahrs dachte ich an ihn, und gegenüber meinen Freundinnen in Westfield bezeichnete ich ihn als meinen Freund. Die Mädchen waren neidisch, weil sie dachten, ich hätte eine tolle Sommerliebe. Ich wusste, dass Ross mir mit seinem Tennisschläger eins überziehen würde, wenn er davon erfuhr. Für ihn war ich noch immer das Mädchen von nebenan.
    Als meine Töchter größer wurden und sich für das andere Geschlecht interessierten, gingen sie immer nur mit einem Jungen aus, doch in meiner Teenagerzeit war das anders. Meine Freunde und ich taten alles in der Gruppe. “Marias Gang” nannte mein Vater uns immer. An der Küste bestand meine “Gang” aus etwa zwölf Leuten. Viele von uns hatten Boote, und wir

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