Der Tod soll auf euch kommen
Nach einem Jahr und einem Tag. Sie fühlte sich unbehaglich, weil sie sofort an ihre Ehe denken mußte. Auch ihre Frist neigte sich dem Ende zu, und sie würde über ihre Zukunft mit Eadulf entscheiden müssen. Doch wie konnte sie unter den gegenwärtigen Umständen überhaupt eine Entscheidung treffen? Sie war ohnehin schon ganz verwirrt, was ihre Beziehung anging, und nun kam noch die Tragödie um Alchú hinzu.
Eadulf merkte nicht, wie melancholisch sie plötzlich war. Er sprach weiter.
»Mir ist aufgefallen, daß man Zwerge hier nicht nur als Narren und Spaßmacher betrachtet. Das ist in anderen Ländern nicht üblich.«
Fidelma riß sich zusammen und kämmte ihre roten Locken weiter. Sie versuchte, sich von ihren düsteren Gedanken zu lösen und sich auf Eadulfs Worte zu konzentrieren.
»Warum sollte man sie nicht als normale Menschen betrachten? Sind sie wirklich so anders? Zwei der alten Götter ausvorchristlichen Zeiten, die Kinder der Danu, waren Zwerge. Luchta war einer der drei großen Handwerker, die kunstvolle Schilde und Speere aus Holz anfertigen. Abcán, dessen Name ›kleiner Zwerg‹ bedeutet, war einer der Dichter der Götter und Göttinnen. Er befuhr in einem eigenartigen metallbeschlagenen Boot den Eas Ruadh, den roten Katarakt, der sich in einem großen Fluß nördlich von hier befindet. Außerdem lebten kleinwüchsige Menschen meist als Poeten und Musiker an den Höfen großer Fürsten. Auch Fionn Mac Cumhail beschäftigte einen kleinwüchsigen Harfenisten, der Cnú Deireóil hieß. Er war sehr schön, hatte goldenes Haar und eine so liebliche Stimme, daß sie einen mit ihrem Gesang in den Schlaf wiegte. Menschen von kleiner Gestalt haben nicht unbedingt auch einen kleinen Verstand.«
Eadulf schwieg eine Weile, ging zum Fenster und blickte auf den dunklen Hof mit dem Kreuzgang. Einer der Brüder der Abtei zündete dort unten die Fackeln an, die in Eisenhaltern an den Mauern angebracht waren. Eadulf schaute zu dem düsteren Himmelsstück über dem Hof auf und seufzte.
»Der Monat von Cet Gaimred« – er benutzte den irischen Namen –, »und die Wolken sind so groß und dunkel, daß wir den ersten Wintermond nicht sehen können.« Auf einmal schüttelte es ihn. »Zu dieser Jahreszeit bin ich nie fröhlich.«
Fidelma blickte zu ihm hinüber.
»Man kann nicht bestreiten, daß die Dinge eine natürliche Ordnung haben. Vor der Wiedergeburt kommt immer eine Periode der Dunkelheit. Deshalb beginnt für uns das Jahr mit der Dunkelheit des Winters. In dieser Zeit können wir ausruhen und uns besinnen, so wie die Natur es macht, ehe sie sich leuchtend wieder neu erhebt zu einem einzigen Wachsen.«
Eadulf drehte sich um und lächelte.
»Ich habe nie begriffen, warum euer Samhain-Fest den Anfang eines neuen Jahres darstellt.«
»Ist es nicht ganz natürlich, zu sitzen, sich auszuruhen und zu meditieren, ehe man aufsteht und aktiv wird? Die Felder ruhen, die Bäume ruhen, die Menschen ruhen sich in ihren Häusern aus und warten auf die ersten Zeichen des Frühlings. So wie ein Baby in dem dunklen Bauch der Mutter ruht und kräftig wird, bis es hinaus in die Welt kann.«
»Du willst doch damit nicht sagen, daß wir nichts als warten sollen, bis der Frühling beginnt.« Eadulf lehnte sich nun gegen das Fenster und fuhr sich mit einer Hand durch das Stirnhaar. »Sollen wir wirklich bis zu dem Fest, das den Zeitpunkt markiert, an dem die Mutterschafe Milch haben, nichts tun? Es gibt Zeiten, wo wir die Meditation meiden und uns diese Ruhe versagen müssen.«
Sobald er diese Worte gesagt hatte, wurde ihm klar, daß sie unangebracht gewesen waren. Es war ihm so vorgekommen, als sei Fidelma zusammengezuckt wie unter Schmerzen. Mit ausgestreckten Händen ging er rasch auf sie zu. Doch sie wich ihm aus und drehte den Kopf zur Seite. Wie angewurzelt blieb er stehen. Da erhob sie sich, wobei sie ihn streifte.
»Du hast recht, Eadulf. Jetzt ist nicht die Zeit zum Nichtstun.«
»Ich wollte nicht …«
»Gleich wird die Glocke des Refektoriums läuten«, fiel sie ihm ins Wort und überging seinen verletzten und schuldbewußten Blick. »Es ist Zeit, daß wir entscheiden, was wir als nächstes tun werden.«
Eadulf räusperte sich und fragte sich, ob er ihr Verhaltentadeln sollte, doch dann ließ er die Hände sinken und zuckte mit der Schulter.
»Ich denke, daß wir nach Westen weiterreiten sollten in der Hoffnung, den kleinen Leprakranken einzuholen«, sagte Fidelma.
»Das wird das beste sein«,
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