Der Tod wartet
hängen bleibt. Sie könnten noch viel Freude am Leben haben. Es ist nämlich wirklich viel besser, freundlich und nett zu sein. Sie müssen es nur einmal versuchen.»
Sie hielt inne.
Mrs Boynton war wie zur Salzsäule erstarrt. Schließlich fuhr sie sich mit der Zunge über die trockenen Lippen, ihr Mund öffnete sich – aber ihr fehlten noch immer die Worte.
«Nur zu!», sagte Sarah aufmunternd. «Sprechen Sie es aus! Es ist mir egal, was Sie sagen. Aber denken Sie daran, was ich Ihnen gesagt habe.»
Endlich fand Mrs Boynton die Sprache wieder – und ihre leise, raue, aber durchdringende Stimme. Ihr Basiliskenblick ruhte nicht auf Sarah, sondern seltsamerweise auf einem Punkt hinter ihr. Sie schien ihre Worte nicht an Sarah zu richten, sondern an einen vertrauten Geist.
« Ich vergesse nichts » , sagte sie. « Merken Sie sich das gut. Ich vergesse niemals etwas – keine Handlung keinen Namen, kein Gesicht… »
Die Worte selbst hatten nicht viel zu besagen, aber die Gehässigkeit, mit der sie ausgesprochen wurden, ließ Sarah einen Schritt zurückweichen. Und dann lachte Mrs Boynton – lachte auf eine ganz widerwärtige Weise.
Sarah zuckte die Schultern und sagte: «Sie tun mir Leid.»
Sie wandte sich ab und ging zum Fahrstuhl, wo sie beinahe mit Raymond Boynton zusammengestoßen wäre. Einer plötzlichen Eingebung folgend, sagte sie schnell:
«Auf Wiedersehen. Ich hoffe, Sie haben eine angenehme Reise. Vielleicht begegnen wir uns einmal wieder.» Sie schenkte ihm ein warmes, freundliches Lächeln und ging rasch weiter.
Raymond stand wie versteinert da. Er war so in Gedanken versunken, dass der kleine Mann mit dem großen Schnurrbart, der den Lift verlassen wollte, mehrmals « Pardon! » sagen musste.
Endlich hörte ihn Raymond und trat zur Seite.
«Entschuldigung», sagte er. «Ich war mit meinen Gedanken woanders.»
Carol kam auf ihn zu.
«Ray, würdest du bitte Jinny holen? Sie ist noch mal auf ihr Zimmer gegangen. Wir können jetzt fahren.»
«Klar. Ich sage ihr, dass sie gleich herunterkommen soll.»
Raymond nahm den Lift.
Hercule Poirot stand da und sah ihm mit leicht gerunzelter Stirn nach, den Kopf wie lauschend schief gelegt.
Dann nickte er zustimmend vor sich hin. Auf dem Weg durch die Halle warf er einen langen Blick auf Carol, die sich zu ihrer Mutter gesetzt hatte.
Dann winkte er dem Oberkellner, der gerade vorbeiging.
« Pardon. Könnten Sie mir sagen, wie die Herrschaften dort drüben heißen?»
«Ihr Name ist Boynton, Monsieur. Sie sind Amerikaner.»
«Vielen Dank», sagte Hercule Poirot.
In der dritten Etage kamen Dr. Gérard, der sich auf dem Weg zu seinem Zimmer befand, Raymond Boynton und Ginevra entgegen, die zum Fahrstuhl gingen. Gerade als sie im Begriff waren einzusteigen, sagte Ginevra: «Warte bitte einen Moment im Lift auf mich, Ray.»
Sie lief zurück, bog um eine Ecke und holte Dr. Gérard ein. «Bitte – ich muss Sie sprechen.»
Gérard sah sie erstaunt an.
Das Mädchen trat dicht an ihn heran und packte seinen Arm.
«Sie wollen mich wegbringen! Vielleicht sogar töten… Ich gehöre gar nicht zu ihnen, müssen Sie wissen. Mein richtiger Name ist gar nicht Boynton…»
Sie sprach hastig weiter, und die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus.
«Ich will Ihnen ein Geheimnis anvertrauen. Ich bin – ich bin nämlich königlichen Geblüts! Wirklich! Und darum – darum bin ich überall von Feinden umringt. Sie wollen mich vergiften – mir alles Mögliche antun… Wenn Sie mir helfen könnten zu fliehen, dann – »
Sie brach ab, da Schritte zu hören waren.
«Jinny?»
Sie machte eine erschrockene Bewegung, die sie sehr schön aussehen ließ, legte den Finger an die Lippen, warf Gérard einen flehenden Blick zu und lief zum Fahrstuhl.
«Ich komme, Ray.»
Dr. Gérard ging mit verdutzter Miene weiter. Dann schüttelte er langsam den Kopf und runzelte die Stirn.
Zehntes Kapitel
E s war der Morgen des Aufbruchs nach Petra.
Als Sarah herunterkam, sah sie eine große, herrische Frau mit Pferdegesicht vor dem Eingang stehen, die ihr schon früher im Hotel aufgefallen war und die lautstark gegen die Größe des Wagens protestierte.
«Ausgeschlossen! Auf gar keinen Fall! Der soll für vier Personen sein? Und einen Dragoman? Da brauchen wir selbstverständlich eine wesentlich größere Limousine. Sie bringen diesen Wagen auf der Stelle zurück und beschaffen einen adäquateren!»
Vergebens erhob der Vertreter der Firma Castle die Stimme, um alles zu
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