Der Tod wird euch finden - Al-Qaida und der Weg zum 11 September Ausgezeichnet mit dem Pulitzer Prize 2007
nahen sehen, nicht verhindert hatten.
O’Neills Gesicht war auf einem von tausenden handgemachten Plakaten zu sehen, mit denen die Mauern der Hafenbehörde und des Grand Central Terminal sowie Telefonmasten in ganz Manhattan gepflastert wurden. Obwohl dies vollkommen abwegig schien, versprach Valeries Bruder John McKillop, der als Sanitäter in Chicago arbeitete, er werde O’Neill finden. Gemeinsam mit 25 Kollegen machte er sich auf den Weg nach New York. Eine Polizeieskorte begleitete sie auf der ganzen Strecke. Dies war eine von vielen spontan gebildeten Karawanen von Rettungsdiensten, die aus dem ganzen Land in die Stadt strömten. Es war ungewohnt und seltsam, Soldaten auf den Straßen einer amerikanischen Stadt zu sehen. Bewaffnete Posten schützten Brücken und wichtige Gebäude. Die Flughäfen im ganzen Land wurden geschlossen, während Militärflugzeuge wie wütende Hornissen umherflogen.
Als McKillop bei Ground Zero eintraf, war er fassungslos angesichts des gewaltigen, brennenden Trümmerbergs. In der Hoffnung, Überlebende zu finden, gruben die Rettungseinheiten Tag und Nacht im Schutt, aber der Anblick nahm McKillop jede Hoffnung. „Mein einziger Gedanke war: Was soll ich meiner Schwester sagen?“
Die Leichen vieler Opfer wurden nie gefunden, aber am 21. September stießen Rettungsarbeiter, die den Schutt an der Ecke Liberty und Greenwich abtrugen, auf die Leiche eines Mannes in einem blauen Anzug. In der Brusttasche des Sakkos steckte seine Brieftasche. Es war John O’Neill.
Die Toten des World Trade Center bildeten in mancher Hinsicht eine Art von internationalem Parlament: Unter den Opfern waren Bürger von 62 Ländern und Angehörige fast jeder ethnischen Gruppe und Religionsgemeinschaft auf dem Planeten. Da war ein Aktienhändler, der einst ein Hippie gewesen war, ein homosexueller katholischer Kaplan der Feuerwehr von New York City, ein japanischer Eishockeyspieler, ein stellvertretender Küchenchef aus Ekuador, eine Sammlerin von Barbie-Puppen, ein vegetarischer Kalligraph, ein palästinensischer Buchhalter … All diese vielgestaltigen Vorstellungen vom Leben bestätigten den Spruch aus dem Koran, der besagt, dass man ein Universum zerstört, wenn man ein Leben nimmt. Das Ziel des Angriffs waren die Vereinigten Staaten gewesen, aber Al-Qaida hatte die gesamte Menschheit getroffen.
Die Überreste der Toten wurden aus dem Schutt geklaubt, katalogisiert und identifiziert, wozu oft DNA-Proben benötigt wurden, die Familienangehörige bereitstellten, indem sie beispielsweise Haare des Opfers aus einer Bürste lieferten. Alle Körperteile erfuhren dieselbe Behandlung, mit einer Ausnahme: Wenn einer der mehr als 400 toten Angehörigen von Feuerwehr und Polizei entdeckt wurde, kam ein besonderes Protokoll zur Anwendung, das auch in O’Neills Fall befolgt wurde: Der Leichnam wurde mit einer amerikanischen Flagge bedeckt, und die Polizisten und Feuerwehrleute, die in den Trümmern gruben, nahmen Haltung an, während die Leiche zum Krankenwagen getragen wurde. 2
Während seiner Kindheit in Atlantic City war John O’Neill Ministrant in der St. Nicholas of Tolentine Church gewesen. Am 28. September versammelten sich dort rund 1000 Trauergäste, um von ihm Abschied zu nehmen. Viele von Ihnen waren FBI-Agenten, Polizisten und Angehörige ausländischer Nachrichtendienste, die O’Neill in den Krieg gegen den Terror gefolgt waren, lange bevor sich die Regierung diesen Kampf auf ihre Fahnen geschrieben hatte. In der Nervosität nach dem Terrorangriff waren in den Straßen rund um die Kirche Barrikaden errichtet worden, und über dem Gotteshaus kreiste ein Armeehubschrauber.
Richard A. Clarke hatte seit dem 11. September keine Träne vergossen, aber als die Dudelsäcke zu spielen begannen und der Sarg vorüber getragen wurde, brach er zusammen. Das letzte Gespräch mit O’Neill kam ihm in den Sinn. Als O’Neill den Job beim Nationalen Sicherheitsrat endgültig abgelehnt hatte, hatte er gesagt: „Betrachten Sie es von der positiven Seite. Wann immer Sie in New York sind, können sie im Windows on the World vorbeischauen.“Und dann hatte er noch hinzugefügt: „Wo immer wir enden, wir werden immer Brüder sein.“
O’Neills Begräbnis war jene katastrophale Fügung des Zufalls, die er stets gefürchtet hatte: Zum ersten Mal begegneten einander seine Frau und seine zwei Kinder, Valerie James und ihre beiden Kinder sowie Anna DiBattista. Alle seine Geheimnisse wurden auf einmal gelüftet. Aber es
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