Der Todschlaeger
ihm. Bei dem Gedanken an
ihre früheren Beziehungen wurde sie sogar
von Widerwillen erfaßt. Oh, das war vorbei,
gänzlich vorbei. Sollte er es eines Tages
wagen, das von ihr zu verlangen, so würde sie
ihm mit ein paar Ohrfeigen antworten und
lieber ihren Mann davon unterrichten. Und
wiederum dachte sie ohne Gewissensbisse mit
wunderbarer Süße an die gute Freundschaft
Goujets.
Als Clémence eines Morgens in die Werkstatt
kam, erzählte sie, sie habe gestern abend
gegen elf Uhr Herrn Lantier mit einer Frau am
Arm getroffen. Dies sagte sie mit sehr
dreckigen Worten und mit versteckter Bosheit,
um zu sehen, was für ein Gesicht die Meisterin
machen würde. Ja, Herr Lantier sei die Rue
NotreDamedeLorette hinaufgestiegen; die
Frau sei blond gewesen, eins jener
halbverreckten Boulevardpferdchen mit
nacktem Hintern unter ihrem Seidenkleid. Und
sie sei ihnen zum Spaß nachgegangen. Das
Pferdchen sei zu einem Schlächter
hineingegangen, um Garnelen und Schinken
zu kaufen. In der Rue de La Rochefoucauld
habe Herr Lantier dann auf dem Bürgersteig
vor dem Hause mit der Nase in der Luft so
lange herumgestanden, bis die Kleine, die ganz
allein hinaufgegangen sei, ihm vom Fenster
aus ein Zeichen gegeben habe, nach oben zu
kommen. Aber Clémence mochte noch so
viele widerliche Erläuterungen hinzufügen,
ruhig bügelte Gervaise weiter an einem weißen
Kleid. Hin und wieder rief die Geschichte ein
leises Lächeln auf ihren Lippen hervor. Diese
Provenzalen, sagte sie, seien alle toll hinter
den Frauen her; sie müßten um jeden Preis
eine haben; sie hätten sie mit der Schaufel von
einem Kehrichthaufen aufgelesen. Und als der
Hutmacher abends kam, amüsierte sie sich
über die Sticheleien Clémences, die ihn mit
seiner Blonden ärgerte. Im übrigen schien er
geschmeichelt zu sein, daß er gesehen worden
war. Mein Gott, das sei eine ehemalige
Freundin, die er noch ab und zu besuche, wenn
das niemanden stören sollte; ein sehr schickes
Mädchen mit einer Einrichtung aus
Palisanderholz, und er führte ehemalige
Liebhaber von ihr an, einen Vicomte, einen
Fayencegroßhändler, den Sohn eines Notars.
Er selbst liebe Frauen, die lieblich dufteten. Er
schob Clémence sein Taschentuch unter die
Nase, das die Kleine ihm einparfümiert hatte,
als gerade Etienne heimkehrte. Da setzte er
seine ernste Miene auf, küßte das Kind und
fügte hinzu, der Ulk habe nichts weiter auf
sich und sein Herz sei tot. Über ihre Arbeit
gebeugt, nickte Gervaise mit beifälliger
Miene. Und Clémence mußte für ihre Bosheit
noch büßen, denn sie hatte wohl gespürt, wie
Lantier sie bereits zwei oder dreimal gekniffen
hatte, ohne es sich anmerken zu lassen, und sie
platzte vor Neid, daß sie nicht nach Moschus
stank wie das Boulevardpferdchen.
Als es wieder Frühling wurde, sprach Lantier,
der ganz und gar zum Hause gehörte, davon, in
dieses Viertel zu ziehen, um seinen Freunden
näher zu sein. Er wollte ein möbliertes Zimmer
in einem sauberen Haus haben. Frau Boche
und Gervaise selber zerteilten sich schier, um
so etwas für ihn zu finden. Man durchsuchte
die benachbarten Straßen. Aber er war zu
schwer zufriedenzustellen, er wünschte einen
großen Hof, er verlangte eine
Erdgeschoßwohnung, kurzum, alle nur
erdenklichen Bequemlichkeiten. Und nun
schien er jeden Abend bei den Coupeaus die
Höhe der Decken auszumessen, die
Anordnung der Räume zu studieren und eine
ähnliche Wohnung zu begehren. Oh, etwas
anderes würde er gar nicht verlangen, er würde
sich gern ein Loch in diesem ruhigen und
warmen Winkel graben. Dann beendete er
seine Untersuchung jedesmal mit dem Satz:
»Sakrament! Sie haben es doch immerhin
recht gut!«
Als er eines Abends dort gegessen hatte und
beim Nachtisch seinen Satz fallen ließ, rief
Coupeau, der angefangen hatte, ihn zu duzen,
ihm unvermittelt zu:
»Mußt halt hierbleiben, alter Junge, wenn du
Lust dazu hast ... Man wird sich eben
einrichten ...« Und er erklärte, daß die Stube
mit der schmutzigen Wäsche, wenn man sie
sauber gemacht hätte, einen hübschen Raum
abgeben würde. Etienne könne im Laden auf
einer auf die Erde geworfenen Matratze
schlafen, das sei alles.
»Nein, nein«, sagte Lantier, »das kann ich
nicht annehmen. Das würde euch zu sehr
behindern. Ich weiß, es ist von Herzen gut
gemeint, aber so dicht auf einander wäre es
einem doch zu warm ... Außerdem, wißt ihr,
muß jeder seine Freiheit haben. Ich
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