Der Todschlaeger
Anekdoten erzählt, wie der
Kaiser die dreizehnjährige Tochter eines
Kochs verführt hatte; und die Abbildung stellte
Napoleon III. mit nackten Beinen dar, der
allein den Großkordon der Ehrenlegion64
umbehalten hatte und einer Göre nachstellte,
die sich seiner Lüsternheit entzog.
»Ah, das ist richtig!« rief Boche aus, dessen
heimlich wollüstige Instinkte angenehm
berührt waren. »So kommt das immer!«
Poisson war erschüttert, entgeistert; und er
fand kein Wort, um den Kaiser zu verteidigen.
Es stand in einem Buch, er konnte es nicht in
Abrede stellen. Da entfuhr ihm, weil ihm
Lantier die Abbildung immer noch mit
spöttelnder Miene unter die Nase schob,
folgender Schrei, wobei er die Arme krumm
machte:
»Na und? Liegt das denn nicht in der
menschlichen Natur?«
Durch diese Antwort wurde Lantier das Maul
gestopft. Er ordnete seine Bücher und
Zeitungen auf einem Brett des Schrankes; und
da er untröstlich zu sein schien, daß er kein
kleines Bücherbrett hatte, das über dem Tisch
hing, versprach Gervaise, ihm eins zu
besorgen. Er besaß »Die Geschichte der zehn
Jahre«65 von Louis Blanc mit Ausnahme des
ersten Bandes, den er übrigens nie gehabt
hatte, »Die Girondisten« von Lamartine66 in
Lieferungen zu zwei Sous, »Die Geheimnisse
von Paris«67 und den »Ewigen Juden«68 von
Eugène Sue, nicht mitgerechnet einen Haufen
philosophischer und menschheitsbeglückender
Schmöker, die er bei den Trödlern aufgelesen
hatte. Aber vor allem seine Zeitungen umfing
er mit gerührtem und ehrfurchtsvollem Blick.
Es war dies eine Sammlung, die er seit Jahren
angelegt hatte. Jedesmal wenn er im Café in
einer Zeitung einen gelungenen und seinen
Anschauungen entsprechenden Artikel las,
kaufte er die Zeitung und hob sie auf. So besaß
er von ihnen ein gewaltiges Paket aller Daten
und Titel, die ohne jede Ordnung aufgestapelt
waren. Als er dieses Paket unten aus dem
Koffer herausgenommen hatte, klopfte er
freundschaftlich obendrauf und sagte zu den
beiden anderen:
»Sehen Sie das? Nun, das gehört Papa,
niemand kann sich schmeicheln, etwas so
Duftes zu besitzen ... Was da drinsteckt,
können Sie sich nicht vorstellen. Das heißt,
wenn man die Hälfte dieser Ideen zur
Anwendung brächte, so würde das mit einem
Schlage die Gesellschaft säubern. Ja, Ihr
Kaiser und alle seine Spitzel würden Wasser
saufen gehen ...«
Doch er wurde von dem Polizisten
unterbrochen, dessen roter Napoleonbart sich
in seinem bleichen Gesicht bewegte.
»Und die Armee, hören Sie mal, was machen
Sie denn mit der?«
Da brauste Lantier auf. Seinen Zeitungen
Faustschläge versetzend, schrie er:
»Ich will die Abschaffung des Militarismus,
die Brüderlichkeit der Völker ... Ich will die
Beseitigung der Privilegien, der Titel und der
Monopole ... Ich will die Gleichheit der
Löhne, die Verteilung der Gewinne, die
Glorifizierung des Proletariats ... Alle
Freiheiten, verstehen Sie, alle! – Und die
Scheidung!«
»Ja, ja, die Scheidung, wegen der Moral!«
betonte Boche.
Poisson hatte eine majestätische Miene
aufgesetzt. Er erwiderte:
»Wenn ich aber Ihre Freiheiten nicht haben
will, ich bin ja frei.«
»Wenn Sie sie nicht haben wollen, wenn Sie
sie nicht haben wollen ...«, stotterte Lantier,
den die Leidenschaft fast erstickte. »Nein, Sie
sind nicht frei! – Wenn Sie sie nicht haben
wollen, dann verfrachte ich Sie eigenhändig
nach Cayenne69, ja, nach Cayenne, samt
Ihrem Kaiser und den ganzen Schweinen
seiner Bande!«
Bei jeder ihrer Begegnungen gerieten sie so
aneinander.
Gervaise,
die
Auseinandersetzungen nicht liebte, trat
gewöhnlich dazwischen. Sie kam aus der
Benommenheit heraus, in die der Anblick des
ganz vom verdorbenen Duft ihrer früheren
Liebe erfüllten Koffers sie versenkt hatte, und
sie zeigte den drei Männern die Gläser.
»Das ist wahr«, sagte Lantier, plötzlich
beruhigt, und ergriff sein Glas. »Auf Ihr
Wohl.«
»Auf das Ihre«, erwiderten Boche und
Poisson, die mit ihm anstießen.
Boche allerdings wiegte sich, von Besorgnis
gequält, hin und her und sah den Polizisten
von der Seite an.
»Das bleibt doch alles unter uns, nicht wahr,
Herr Poisson?« murmelte er schließlich. »Man
zeigt und man sagt Ihnen Dinge ...«
Aber Poisson ließ ihn nicht ausreden. Er legte
die Hand aufs Herz, wie um zu erklären, daß
alles dort bleibe. Er werde bestimmt keine
Freunde bespitzeln.
Da Coupeau gekommen war, leerte man eine
zweite
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