Der Todschlaeger
Monatsraten zu zehn Francs abzahlen
sollte. Waren Lantiers zwanzig Francs auch
auf etwa zehn Monate durch die entstandenen
Schulden im voraus durchgebracht, so würde
es später doch einen hübschen Gewinn
abwerfen.
In den ersten Junitagen fand der Einzug des
Hutmachers statt. Am Tage vorher hatte sich
Coupeau erboten, seinen Koffer von ihm zu
Hause zu holen, um ihm die dreißig Sous für
eine Droschke zu ersparen. Doch der andere
hatte verlegen dagestanden und gesagt, sein
Koffer sei zu schwer, als habe er bis zum
letzten Augenblick die Stelle verheimlichen
wollen, wo er wohnte. Er kam am Nachmittag
gegen drei Uhr an. Coupeau war nicht da. Und
Gervaise, die an der Ladentür stand, wurde
ganz blaß, als sie den Koffer auf der Droschke
erkannte. Es war beider Koffer von einst, der
Koffer, mit dem sie von Plassans hergereist
war und der heute zerschunden, zerschlagen
war und von Stricken zusammengehalten
wurde. Sie sah ihn zurückkommen, wie sie es
oft geträumt hatte, und sie konnte sich
vorstellen, daß ihn dieselbe Droschke ihr
zurückbrachte, die Droschke, in der sich die
Poliererin, dieses Weibsbild, über sie lustig
gemacht hatte. Unterdessen war Boche Lantier
behilflich.
Die Wäscherin folgte ihnen stumm, ein wenig
benommen. Als sie ihre Last mitten in der
Stube abgesetzt hatten, sagte sie, bloß um zu
reden: »Na, das wäre geschafft, was?« Dann
faßte sie sich wieder, und als sie sah, daß
Lantier, der damit beschäftigt war, die Stricke
aufzuknoten, sie nicht einmal anschaute, fügte
sie hinzu: »Herr Boche, Sie trinken doch einen
Schluck.« Und sie holte eine Literflasche und
Gläser.
Eben ging Poisson in Uniform auf dem
Bürgersteig vorüber. Mit den Augen
zwinkernd, gab sie ihm mit ihrem Lächeln
einen kleinen Wink. Der Polizist begriff
vollkommen. Wenn er im Dienst war und man
ihm zublinzelte, so hieß das, daß man ihm ein
Glas Wein anbot. Er ging sogar stundenlang
vor dem Laden der Wäscherin auf und ab und
wartete, daß sie ihm zublinzelte. Da ging er,
um nicht gesehen zu werden, über den Hof
und zwitscherte heimlich sein Gläschen.
»Aha!« sagte Lantier, als er ihn eintreten sah.
»Sie sind es, Badinguet61!« Er nannte ihn aus
Ulk Badinguet, um sich über den Kaiser lustig
zu machen.
Poisson nahm das mit seiner starren Miene
hin, ohne daß man erfahren konnte, ob ihn das
im Grunde ärgerte. Übrigens waren die beiden
Männer, obgleich sie durch ihre politischen
Überzeugungen getrennt waren, sehr gute
Freunde geworden.
»Sie wissen ja, der Kaiser ist Polizist in
London gewesen62«, sagte Boche seinerseits.
»Ja, mein Wort! Er hat die besoffenen Weiber
aufgelesen.«
Doch Gervaise hatte drei Gläser auf dem Tisch
gefüllt. Sie selbst wollte nichts trinken, ihr war
im Magen ganz komisch zumute. Aber sie
blieb und sah zu, wie Lantier die letzten
Stricke abnahm, war von dem Verlangen
erfaßt, zu erfahren, was der Koffer enthielt. Sie
erinnerte sich an einen Haufen Socken in einer
Ecke, an zwei schmutzige Hemden, an einen
alten Hut. Waren diese Sachen noch da?
Würde sie die Lumpen der Vergangenheit
wiederfinden?
Bevor Lantier den Deckel hochhob, nahm er
sein Glas und stieß an.
»Auf Ihre Gesundheit.«
»Auf die Ihre«, erwiderten Boche und Poisson.
Die Wäscherin füllte die Gläser abermals. Die
drei Männer wischten sich mit der Hand die
Lippen ab. Endlich öffnete der Hutmacher den
Koffer. Er war angefüllt mit einem
Durcheinander von Zeitungen, Büchern, alten
Kleidungsstücken, gebündelter Wäsche.
Nacheinander zog er eine Kasserolle, ein Paar
Stiefel, eine Büste von LedruRollin63 mit
zerbrochener Nase, ein besticktes Hemd, eine
Arbeitshose daraus hervor.
Gervaise, die sich vorbeugte, spürte, wie ein
Tabaksgeruch aufstieg, der Geruch eines
unsauberen Mannes, der nur die Oberseite
pflegt, das, was man von seiner Person sieht.
Nein, der alte Hut war nicht mehr in der Ecke
links. Dort lag ein Nähkissen, das sie nicht
kannte, irgendein Geschenk einer Frau. Da
beruhigte sie sich, sie empfand eine
unbestimmte Traurigkeit, während sie sich die
Gegenstände weiter genau ansah und sich
dabei fragte, ob sie aus ihrer Zeit oder aus der
Zeit anderer Frauen stammten.
»Hören Sie mal, Badinguet, kennen Sie das
nicht?« fing Lantier an. Er hielt ihm ein
kleines, in Brüssel gedrucktes und mit Stichen
geschmücktes Buch unter die Nase: »Die
Liebschaften Napoleons III.« Darin wurde
unter anderen
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