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Der Todschlaeger

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Titel: Der Todschlaeger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlo von der Birke
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auszufüllen schien. Ihr Leben
    war gestört. Im ersten Augenblick traten sie
    von einem Fuß auf den anderen, ohne die
    Gegenstände zu finden, sie waren wie
    gerädert, wie am Tage nach einem Gelage.
    Lantier wandte sich sofort wieder zur Tür, um
    zum Bestattungsinstitut zurückzukehren; er
    nahm die dreißig Francs von Frau Lerat mit
    und sechzig Francs, die sich Gervaise von
    Goujet geborgt hatte, zu dem sie mit bloßem
    Kopf, einer Irren gleich, gegangen war.
    Am Nachmittag kamen einige Besuche, von
    Neugier gebissene Nachbarinnen, die sich
    seufzend, die verweinten Augen rollend,
    einfanden; sie traten in die Kammer und
    musterten die Tote, wobei sie sich
    bekreuzigten und den von Weihwasser
    triefenden Buchsbaumsproß ausschüttelten;
    dann setzten sie sich in den Laden, wo sie
    endlos von der lieben Frau sprachen, ohne zu
    ermüden, stundenlang denselben Satz
    wiederholten. Fräulein Remanjou war es
    aufgefallen, daß Mama Coupeaus rechtes
    Auge offengeblieben war; Frau Gaudron war
    nicht davon abzubringen, daß Mama Coupeau
    für ihr Alter eine gute Hautfarbe habe, und
    Frau Fauconnier war bestürzt, weil sie drei
    Tage zuvor noch gesehen hatte, wie Mama
    Coupeau ihren Kaffee schluckte. Wirklich,
    man kratze schnell ab, jeder könne seine
    Stiefel schmieren.
    Gegen Abend begann es den Coupeaus zuviel
    zu werden. Es war doch ein zu großes
    Herzeleid für eine Familie, eine Leiche so
    lange bei sich zu behalten. Die Regierung hätte
    wirklich ein anderes Gesetz darüber erlassen
    sollen. Noch einen ganzen Abend, eine ganze
    Nacht und einen ganzen Vormittag – nein, das
    würde ja nie enden. Wenn man nicht mehr
    weint, schlägt der Kummer in Gereiztheit um,
    nicht wahr, und am Ende würde man sich noch
    schlecht aufführen. Mama Coupeau, die
    stumm und steif hinten in der schmalen
    Kammer lag, breitete sich immer mehr in der
    Wohnung aus, wurde zu einer Last, die die
    Menschen erdrückte. Und die Familie verfiel
    unwillkürlich wieder in ihren alltäglichen Trott
    und verlor etwas von ihrer Ehrfurcht.
    »Sie essen doch einen Bissen mit uns«, sagte
    Gervaise zu Frau Lerat und Frau Lorilleux, als
    sie wieder erschienen. »Wir sind zu traurig,
    wir werden nicht auseinandergehen.«
    Es wurde auf dem Werktisch gedeckt. Beim
    Anblick der Teller dachte jeder an die
    Fressereien, die man hier veranstaltet hatte.
    Lantier war zurückgekehrt. Lorilleux kam
    herunter. Ein Konditor hatte soeben eine
    große, mit Fleisch gefüllte Pastete gebracht,
    denn der Wäscherin stand der Kopf nicht
    danach, sich mit Kochen abzugeben. Als man
    sich setzte, trat Boche ein und sagte, Herr
    Marescot bitte, hereinkommen zu dürfen, und
    der Hausbesitzer kam sehr ernst herein, mit
    seinem breiten Band der Ehrenlegion am
    Überrock. Er grüßte schweigend und ging
    geradeswegs in die Kammer, wo er
    niederkniete. Er war sehr fromm; er betete mit
    der andächtigen Miene eines Pfarrers, schlug
    dann ein Kreuz in der Luft und besprengte
    dabei den Leichnam mit dem
    Buchsbaumzweig. Die ganze Familie, die den
    Tisch verlassen hatte, stand stark beeindruckt
    da. Nachdem Herr Marescot seine Andacht
    verrichtet hatte, ging er in den Laden hinüber
    und sagte zu den Coupeaus:
    »Ich bin wegen der beiden rückständigen
    Mieten gekommen. Sind Sie imstande?«
    »Nein, mein Herr, nicht ganz«, stotterte
    Gervaise, die sehr verärgert war, daß vor den
    Lorilleux darüber gesprochen wurde. »Sie
    verstehen, bei dem Unglück, das uns trifft ...«
    »Allerdings, aber jeder hat seine Sorgen«,
    entgegnete der Hausbesitzer und spreizte seine
    riesigen Finger, die Finger eines ehemaligen
    Arbeiters. »Es tut mir sehr leid, ich kann nicht
    länger warten ... Wenn ich bis übermorgen
    früh nicht das Geld erhalte, bin ich
    gezwungen, zu einer Exmittierung Zuflucht zu
    nehmen.«
    Mit Tränen in den Augen faltete Gervaise
    stumm die Hände und flehte ihn an.
    Mit einem energischen Schütteln seines
    dicken, knochigen Kopfes gab er ihr zu
    verstehen, daß Bitten zwecklos seien. Im
    übrigen verbiete die Ehrfurcht, die man den
    Toten schulde, jede Diskussion. Rückwärts
    gehend, zog er sich taktvoll zurück.
    »Ich bitte tausendmal um Verzeihung, daß ich
    Sie gestört habe«, murmelte er. »Übermorgen
    früh, vergessen Sie nicht.« Und als er beim
    Hinausgehen wiederum an der Kammer
    vorbeikam, grüßte er den Leichnam ein letztes
    Mal durch die weit offene Tür mit einem
    frommen Beugen der Knie.
    Zuerst aß man schnell, damit es nicht so
    aussah, als

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