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Der Todschlaeger

Der Todschlaeger

Titel: Der Todschlaeger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlo von der Birke
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nahm, die er gestikulierend
    verdrückte. »Das ist ganz einfach ... Vor allein
    würde ich Polen wiederherstellen, und ich
    würde einen großen skandinavischen Staat
    errichten, der den nordischen Riesen in Schach
    hielte ... Danach würde ich aus allen kleinen
    deutschen Königreichen eine Republik
    bilden ... Was England betrifft, so ist es kaum
    zu fürchten; sollte es sich rühren, so würde ich
    hunderttausend Mann nach Indien entsenden ...
    Dazu kommt noch, daß ich dem Großtürken
    nach Mekka und dem Papst nach Jerusalem
    mit Kolbenhieben ins Kreuz heimleuchten
    würde ... Was? Da wäre Europa schnell
    bereinigt. He, Badinguet! Sehen Sie doch mal
    her ...« Er unterbrach sich, um fünf oder sechs
    Stück Lakritzen auf einmal zu nehmen. »Na
    schön, das würde nicht länger dauern, als das
    hinterzuschlucken.« Und er warf die Stücke
    eins nach dem anderen in seinen geöffneten
    Mund.
    »Der Kaiser hat einen anderen Plan«, sagte der
    Polizist nach zwei reichlichen Minuten
    Nachdenkens.
    »Hören Sie auf!« entgegnete der Hutmacher
    heftig. »Man kennt ihn, seinen Plan! Europa
    macht sich gerade was aus uns ... Jeden Tag
    lesen die Diener in den Tuilerien Ihren Chef
    unter dem Tisch zwischen zwei Nutten aus der
    vornehmen Gesellschaft auf.«
    Poisson war aufgestanden. Er trat näher und
    legte die Hand aufs Herz, während er sagte:
    »Sie kränken mich, Auguste. Diskutieren Sie,
    ohne persönlich zu werden.«
    Da schaltete sich Virginie ein und bat sie, sie
    möchten sie gefälligst in Ruhe lassen. Europa
    hänge ihr zum Halse raus. Wie könnten sich
    zwei Männer, die alles übrige teilten,
    unaufhörlich wegen der Politik in die Haare
    kriegen?
    Einen Augenblick lang zerkauten sie dumpfe
    Worte. Dann brachte der Polizist, um zu
    zeigen, daß er keinen Groll hegte, den Deckel
    seiner kleinen Schachtel an, den er soeben
    fertiggestellt hatte; darauf war in bunt
    eingelegten Buchstaben zu lesen: »Für
    Auguste

    zum

    freundschaftlichen
    Angedenken«. Sehr geschmeichelt, lehnte sich
    Lantier zurück und machte sich breit, so daß er
    fast auf Virginie lag. Und der Ehemann sah
    dabei zu mit seinem Gesicht, das die Farbe
    einer alten Mauer hatte und in dem seine
    trüben Augen nichts verrieten; aber die roten
    Haare seines Schnurrbarts bewegten sich
    zuweilen von selber auf eine komische Weise,
    was einen Mann, der seiner Sache weniger
    sicher war als der Hutmacher, hätte
    beunruhigen können.
    Lantier, dieser grobe Kerl, verfügte über jene
    gelassene Dreistigkeit, die den Damen gefällt.
    Als Poisson den Rücken wandte, kam ihm der
    spaßige Einfall, einen Kuß auf Frau Poissons
    linkes Auge zu drücken. Gewöhnlich legte er
    eine hinterhältige Vorsicht an den Tag; aber
    wenn er sich wegen der Politik gestritten hatte,
    riskierte er alles, bloß um sich Genugtuung an
    der Frau zu verschaffen. Diese gierigen, frech
    hinter dem Rücken des Polizisten stibitzten
    Liebkosungen rächten ihn am Kaiserreich, das
    aus Frankreich ein Hurenhaus machte. Bloß
    hatte er diesmal Gervaises Anwesenheit
    vergessen.
    Sie hatte den Laden soeben ausgespült und
    trockengewischt, sie stand am Ladentisch und
    wartete, daß man ihr ihre dreißig Sous gab.
    Der Kuß aufs Auge ließ sie ganz kalt wie
    etwas Selbstverständliches, um das sie sich
    nicht zu kümmern hatte. Virginie schien ein
    wenig verärgert. Sie warf die dreißig Sous vor
    Gervaise auf den Ladentisch. Diese rührte sich
    nicht und schien immer noch zuwarten, noch
    mitgenommen vom Scheuern, naß und häßlich
    wie ein Hund, den man aus einem Gully
    gezogen hat.
    »Sie hat also nichts zu Ihnen gesagt?« fragte
    sie schließlich den Hutmacher.
    »Wer denn?« rief er. »Ach so, Nana! –
    Bestimmt nicht, gar nichts weiter. Einen Mund
    hat das Weibsbild! Ein Erdbeerschüsselchen!«
    Und Gervaise ging mit ihren dreißig Sous in
    der Hand davon. Ihre schiefgetretenen
    Latschen spieen wie Pumpen das Wasser aus,
    richtige Musikschuhe, die eine Melodie
    spielten, während sie auf dem Bürgersteig die
    nassen Abdrücke ihrer breiten Sohlen
    hinterließen.
    Im Viertel erzählten nun die Säuferinnen ihres
    Schlages, sie trinke, um sich darüber
    hinwegzutrösten, daß sich ihre Tochter
    umlegen ließ. Sie selbst nahm, wenn sie am
    Schanktisch ihr Glas Fusel hinterkippte, ein
    tragisches Gebaren an und stürzte es sich
    hinter die Binde, wobei sie wünschte, sie möge
    daran verrecken. Und an den Tagen, da sie voll
    wie eine Haubitze heimkam, lallte sie, der
    Kummer sei

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