Der Todschlaeger
daran schuld. Die ehrbaren Leute
aber zuckten die Achseln; die Geschichte
kannte man, den Schnapsrausch aus dem
»Totschläger« auf das Konto Kummer zu
setzen; auf jeden Fall mußte das auf Flaschen
gezogener Kummer heißen. Zweifellos hatte
sie anfänglich Nanas Flucht nicht verwunden.
Was an Ehrbarkeit in ihr übrigblieb, empörte
sich; außerdem hat eine Mutter es im
allgemeinen nicht gern, sich sagen zu müssen,
daß ihr Fräulein Tochter sich vielleicht gerade
in dieser Minute von dem ersten besten duzen
läßt. Doch sie war schon zu abgestumpft mit
ihrem kranken Kopf und ihrem zermalmten
Herzen, als daß sie diese Schande lange
empfunden hätte. Bei ihr ging das da rein und
dort wieder raus. Sie konnte sehr wohl acht
Tage zubringen, ohne an ihre feile Dirne zu
denken; und jäh packte sie Zärtlichkeit oder
Zorn, manchmal, wenn sie nüchtern,
manchmal, wenn sie sternhagelvoll war, ein
wildes Verlangen, Nana an einem verrufenen
Ort zu erwischen, wo sie sie vielleicht geküßt,
vielleicht braun und blau geschlagen hätte, je
nachdem, wozu sie im Augenblick gerade
aufgelegt war. Schließlich hatte sie von
Ehrbarkeit keine sehr klare Vorstellung mehr.
Bloß, Nana gehörte ihr, nicht wahr? Na, und
wenn man etwas besitzt, will man nicht sehen,
daß es sich in Dunst auflöst.
Sobald diese Gedanken Gervaise jetzt
überkamen, schaute sie mit Gendarmenaugen
auf die Straßen. Ach, wenn sie ihr Miststück
erblickt hätte, wie hätte sie ihr heimgeleuchtet!
In diesem Jahr wurde das Viertel auf den Kopf
gestellt. Man machte den Durchbruch für den
Boulevard de Magenta und den Boulevard
Ornano, die die alte Barrière Poissonnière
beseitigten und den äußeren Boulevard
durchbohrten. Man kannte sich dort bald nicht
mehr aus. Eine ganze Seite der Rue des
Poissonniers war abgerissen. Von der Rue de
la Goutted'Or aus sah man jetzt eine
unermeßliche Lichtung, grellen Sonnenschein
und freie Luft; und an der Stelle der
baufälligen Gebäude, die die Aussicht nach
dieser Seite hin versperrten, erhob sich auf
dem Boulevard Ornano ein wahrer Prachtbau,
ein sechsstöckiges, wie eine Kirche
gemeißeltes Haus, dessen helle, mit gestickten
Gardinen behangene Fenster Reichtum
atmeten. Dieses Haus, das ganz weiß war und
der Straße genau gegenüberlag, schien sie mit
einer Breitseite von Licht zu erhellen. Es
brachte sogar Lantier und Poisson dazu, sich
jeden Tag zu streiten. Der Hutmacher konnte
sich nicht genug tun über den Abbruch von
Paris; er beschuldigte den Kaiser, überall
Paläste zu bauen, um die Arbeiter in die
Provinz zu verweisen. Und blaß vor kaltem
Zorn, erwiderte der Polizist, der Kaiser denke
im Gegenteil zuerst an die Arbeiter, er werde,
wenn es nötig sei, Paris dem Erdboden
gleichmachen, einzig und allein zu dem
Zweck, um ihnen Arbeit zu verschaffen. Auch
Gervaise zeigte sich verdrossen über diese
Verschönerungen, die ihr den dunklen
Vorstadtwinkel, an den sie gewöhnt war, in
Unordnung brachten. Ihr Verdruß rührte daher,
daß das Viertel ausgerechnet zu dem Zeitpunkt
schöner wurde, da sie selber dem Verfall
entgegenging. Wenn man im Dreck sitzt, hat
man es nicht gern, daß einem die Sonne mitten
auf den Kopf scheint. Daher tobte sie auch an
den Tagen, da sie Nana suchte, darüber, daß
sie über Baumaterial hinwegsteigen, längs der
im Bau begriffenen Bürgersteige herumwaten
und gegen Bretterzäune stoßen mußte. Die
schönen Gebäude auf dem Boulevard Ornano
brachten sie aus dem Häuschen. Derartige
Gebäude, die waren was für Dirnen wie Nana.
Inzwischen hatte sie mehrmals etwas über die
Kleine erfahren. Es gibt immer wohlmeinende
Zungen, die es eilig haben, einem ein
schlechtes Kompliment zu machen. Ja, man
hatte ihr erzählt, die Kleine habe ihren Alten
soeben sitzenlassen, ein schöner Streich von
einem unerfahrenen Mädchen. Sie habe es sehr
gut bei diesem Alten gehabt, sei verhätschelt,
angebetet worden, sei sogar frei gewesen,
wenn sie es verstanden hätte, es richtig
anzufangen. Aber die Jugend ist dumm, sie
müsse mit irgendeinem Süßholzraspler auf und
davon gegangen sein, ganz genau wisse man
es nicht. Sicher schien zu sein, daß sie ihren
Alten eines Nachmittags auf dem Place de la
Bastille um drei Sous gebeten habe, weil sie
mal verschwinden mußte, und daß der Alte
immer noch auf sie warte. In den besten
Kreisen nenne man das »auf englisch
verschwinden«. Andere Leute schworen, sie
seitdem
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