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Der Todschlaeger

Der Todschlaeger

Titel: Der Todschlaeger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlo von der Birke
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daran schuld. Die ehrbaren Leute
    aber zuckten die Achseln; die Geschichte
    kannte man, den Schnapsrausch aus dem
    »Totschläger« auf das Konto Kummer zu
    setzen; auf jeden Fall mußte das auf Flaschen
    gezogener Kummer heißen. Zweifellos hatte
    sie anfänglich Nanas Flucht nicht verwunden.
    Was an Ehrbarkeit in ihr übrigblieb, empörte
    sich; außerdem hat eine Mutter es im
    allgemeinen nicht gern, sich sagen zu müssen,
    daß ihr Fräulein Tochter sich vielleicht gerade
    in dieser Minute von dem ersten besten duzen
    läßt. Doch sie war schon zu abgestumpft mit
    ihrem kranken Kopf und ihrem zermalmten
    Herzen, als daß sie diese Schande lange
    empfunden hätte. Bei ihr ging das da rein und
    dort wieder raus. Sie konnte sehr wohl acht
    Tage zubringen, ohne an ihre feile Dirne zu
    denken; und jäh packte sie Zärtlichkeit oder
    Zorn, manchmal, wenn sie nüchtern,
    manchmal, wenn sie sternhagelvoll war, ein
    wildes Verlangen, Nana an einem verrufenen
    Ort zu erwischen, wo sie sie vielleicht geküßt,
    vielleicht braun und blau geschlagen hätte, je
    nachdem, wozu sie im Augenblick gerade
    aufgelegt war. Schließlich hatte sie von
    Ehrbarkeit keine sehr klare Vorstellung mehr.
    Bloß, Nana gehörte ihr, nicht wahr? Na, und
    wenn man etwas besitzt, will man nicht sehen,
    daß es sich in Dunst auflöst.
    Sobald diese Gedanken Gervaise jetzt
    überkamen, schaute sie mit Gendarmenaugen
    auf die Straßen. Ach, wenn sie ihr Miststück
    erblickt hätte, wie hätte sie ihr heimgeleuchtet!
    In diesem Jahr wurde das Viertel auf den Kopf
    gestellt. Man machte den Durchbruch für den
    Boulevard de Magenta und den Boulevard
    Ornano, die die alte Barrière Poissonnière
    beseitigten und den äußeren Boulevard
    durchbohrten. Man kannte sich dort bald nicht
    mehr aus. Eine ganze Seite der Rue des
    Poissonniers war abgerissen. Von der Rue de
    la Goutted'Or aus sah man jetzt eine
    unermeßliche Lichtung, grellen Sonnenschein
    und freie Luft; und an der Stelle der
    baufälligen Gebäude, die die Aussicht nach
    dieser Seite hin versperrten, erhob sich auf
    dem Boulevard Ornano ein wahrer Prachtbau,
    ein sechsstöckiges, wie eine Kirche
    gemeißeltes Haus, dessen helle, mit gestickten
    Gardinen behangene Fenster Reichtum
    atmeten. Dieses Haus, das ganz weiß war und
    der Straße genau gegenüberlag, schien sie mit
    einer Breitseite von Licht zu erhellen. Es
    brachte sogar Lantier und Poisson dazu, sich
    jeden Tag zu streiten. Der Hutmacher konnte
    sich nicht genug tun über den Abbruch von
    Paris; er beschuldigte den Kaiser, überall
    Paläste zu bauen, um die Arbeiter in die
    Provinz zu verweisen. Und blaß vor kaltem
    Zorn, erwiderte der Polizist, der Kaiser denke
    im Gegenteil zuerst an die Arbeiter, er werde,
    wenn es nötig sei, Paris dem Erdboden
    gleichmachen, einzig und allein zu dem
    Zweck, um ihnen Arbeit zu verschaffen. Auch
    Gervaise zeigte sich verdrossen über diese
    Verschönerungen, die ihr den dunklen
    Vorstadtwinkel, an den sie gewöhnt war, in
    Unordnung brachten. Ihr Verdruß rührte daher,
    daß das Viertel ausgerechnet zu dem Zeitpunkt
    schöner wurde, da sie selber dem Verfall
    entgegenging. Wenn man im Dreck sitzt, hat
    man es nicht gern, daß einem die Sonne mitten
    auf den Kopf scheint. Daher tobte sie auch an
    den Tagen, da sie Nana suchte, darüber, daß
    sie über Baumaterial hinwegsteigen, längs der
    im Bau begriffenen Bürgersteige herumwaten
    und gegen Bretterzäune stoßen mußte. Die
    schönen Gebäude auf dem Boulevard Ornano
    brachten sie aus dem Häuschen. Derartige
    Gebäude, die waren was für Dirnen wie Nana.
    Inzwischen hatte sie mehrmals etwas über die
    Kleine erfahren. Es gibt immer wohlmeinende
    Zungen, die es eilig haben, einem ein
    schlechtes Kompliment zu machen. Ja, man
    hatte ihr erzählt, die Kleine habe ihren Alten
    soeben sitzenlassen, ein schöner Streich von
    einem unerfahrenen Mädchen. Sie habe es sehr
    gut bei diesem Alten gehabt, sei verhätschelt,
    angebetet worden, sei sogar frei gewesen,
    wenn sie es verstanden hätte, es richtig
    anzufangen. Aber die Jugend ist dumm, sie
    müsse mit irgendeinem Süßholzraspler auf und
    davon gegangen sein, ganz genau wisse man
    es nicht. Sicher schien zu sein, daß sie ihren
    Alten eines Nachmittags auf dem Place de la
    Bastille um drei Sous gebeten habe, weil sie
    mal verschwinden mußte, und daß der Alte
    immer noch auf sie warte. In den besten
    Kreisen nenne man das »auf englisch
    verschwinden«. Andere Leute schworen, sie
    seitdem

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