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Der Todschlaeger

Der Todschlaeger

Titel: Der Todschlaeger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlo von der Birke
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angewöhnen
    können, gar nichts zu essen. Einzig und allein
    das machte Gervaise einen Strich durch die
    Rechnung. Sie machte sich überhaupt nichts
    daraus, die Allerverworfenste tief in der Gosse
    zu sein und zu sehen, wie die Leute sich
    abklopften, wenn sie an ihnen vorüberging.
    Die schlechten Manieren störten sie nicht
    mehr, während der Hunger ihr immerzu die
    Gedärme auswrang. Oh, den leckeren
    Gerichten hatte sie Lebewohl gesagt, sie hatte
    sich erniedrigt, alles zu verschlingen, was sie
    fand. Nun kaufte sie an Tagen, an denen sie
    schlemmte, beim Schlächter Fleischabfälle zu
    vier Sous das Pfund, die es satt hatten, auf
    einem Teller herumzuliegen und schwarz zu
    werden; und das setzte sie mit einem Topf voll
    Kartoffeln auf, die sie auf dem Boden einer
    Kasserolle verrührte. Oder sie machte
    Frikassee aus einem Rinderherz, ein Fraß,
    nach dem sie sich die Lippen leckte.
    Manchmal, wenn sie Wein hatte, leistete sie
    sich darin eingetunktes Brot, eine richtige
    Papageiensuppe. Für zwei Sous Leberkäse, ein
    Scheffel Bechamelkartoffeln, ein Viertel
    trockene, im eigenen Saft geschmorte Bohnen
    waren noch Festessen, die sie sich nicht mehr
    oft verschaffen konnte. Sie sank herab zu
    Mischmaschgerichten

    in anrüchigen
    Garküchen, wo sie für einen Sou einen Haufen
    Fischgräten bekam, mit Überbleibseln von
    verdorbenem Braten vermengt. Sie sank noch
    tiefer, erbettelte bei einem mitleidigen
    Gastwirt die Rinden der Gäste und machte
    eine Brotsuppe, indem sie die Rinden so lange
    wie möglich auf dem Herd eines Nachbarn
    schmoren ließ. An den Morgen, da sie
    Heißhunger hatte, kam es so weit mit ihr, daß
    sie mit den Hunden umherstreunte, um an den
    Türen der Kaufleute nachzusehen, bevor die
    Straßenfeger vorbeikamen; und auf diese
    Weise bekam sie manchmal Gerichte von
    Reichen, verfaulte Melonen, schlecht
    gewordene Makrelen, Koteletts, deren
    Knochen sie aus Furcht vor Maden
    untersuchte. Ja, soweit war es mit ihr
    gekommen; empfindliche Menschen widert
    diese Vorstellung an, aber wenn diese
    empfindlichen Menschen seit drei Tagen
    nichts hintergeschlungen hätten, dann möchten
    wir mal sehen, ob sie ihrem Bauch aus
    Eigensinn etwas verweigern würden; auf allen
    vieren würden sie kriechen und wie die
    Kumpels inmitten von Unrat essen. Ach ja, das
    Verrecken der Armen, die leeren Eingeweide,
    die vor Hunger schreien, die Not von Tieren,
    die mit den Zähnen klappern und sich mit
    ekelhaften Dingen vollstopfen in diesem so
    goldenen und so flammenden großen Paris!
    Wenn man bedenkt, daß Gervaise sich den
    Bauch mit fetten Gänsen vollgeschlagen hatte!
    Nun konnte sie sich den Schnabel danach
    wischen. Als Coupeau ihr eines Tages zwei
    Brotmarken geklaut hatte, um sie wieder zu
    verkaufen und zu vertrinken, hätte sie,
    ausgehungert und in Wut geraten über den
    Diebstahl dieses Stückchen Brots, ihn beinahe
    mit der Schippe erschlagen.
    Unterdessen war sie durch das stete Betrachten
    des bleifarbenen Himmels in einen mühsamen
    leichten Schlaf gesunken. Sie träumte, dieser
    schneebeladene Himmel berste über ihr, so
    sehr zwickte die Kälte sie. Jäh stellte sie sich
    auf die Beine, war durch einen heftigen
    Angstschauer aus dem Schlaf hochgefahren.
    Mein Gott, sollte sie etwa sterben?
    Schlotternd, verstört sah sie, daß es noch Tag
    war. Wollte denn die Nacht nicht kommen?
    Wie lang die Zeit ist, wenn man nichts im
    Bauch hat! Ihr Magen erwachte ebenfalls und
    quälte sie. Auf den Stuhl hingesunken, den
    Kopf gesenkt, die Hände zwischen den
    Schenkeln, um sich aufzuwärmen, berechnete
    sie bereits das Abendessen, sobald Coupeau
    das Geld bringen würde: ein Brot, ein Liter
    Wein und zwei Portionen Fettdarm mit
    Zwiebeln geschmort. Auf Vater Bazouges
    Kuckucksuhr schlug es drei. Es war erst drei
    Uhr. Da weinte sie. Niemals würde sie die
    Kraft haben, bis sieben Uhr zu warten. Ihren
    ganzen Körper befiel ein Schaukeln, das
    Schlenkern eines kleinen Mädchens, das
    seinen großen Schmerz einlullt, sie krümmte
    sich zusammen, zerquetschte sich den Magen,
    um ihn nicht mehr zu spüren. Ach, es ist
    besser, niederzukommen als Hunger zu haben!
    Und da sie sich keine Erleichterung
    verschaffen konnte, stand sie, von Raserei
    gepackt, auf und trat von einem Bein auf das
    andere, weil sie hoffte, ihren Hunger wieder
    einzuschläfern wie ein Kind, das man hin und
    her fährt. Eine halbe Stunde lang stieß sie sich
    an den vier Ecken des leeren Zimmers. Dann
    blieb sie auf einmal mit

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