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Der Todschlaeger

Der Todschlaeger

Titel: Der Todschlaeger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlo von der Birke
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geschoben
    hatte, schloß er die Tür. Dort war er zu Hause.
    Es war die enge Kammer, die sie kannte, eine
    Schülerstube mit einem kleinen eisernen Bett,
    das mit weißen Vorhängen versehen war.
    Allein die ausgeschnittenen Bilder an den
    Wänden hatten sich noch ausgebreitet und
    reichten bis zur Decke hinauf. Gervaise wagte
    nicht weiter vorzudringen in diese Reinheit
    und zog sich zurück, weg von der Lampe. Da
    wollte er sie ohne jedes Wort, von Wut erfaßt,
    packen und in seinen Armen erdrücken. Aber
    ihr schwanden die Kräfte, sie flüsterte:
    »O mein Gott ... o mein Gott ...«
    Der Ofen, dessen Feuer mit Koksstaub
    zugedeckt war, brannte noch, und ein Rest
    Ragout, das der Schmied warm gestellt hatte,
    weil er glaubte, er würde nach Hause kommen,
    dampfte vor dem Aschkasten. Durch die große
    Wärme aus ihrer Erstarrung erwacht, hätte
    Gervaise sich auf alle viere niedergelassen, um
    aus der kleinen Pfanne zu essen. Es ging über
    ihre Kräfte, ihr Magen zerriß, und sie bückte
    sich mit einem Seufzer.
    Aber Goujet hatte begriffen. Er stellte das
    Ragout auf den Tisch, schnitt Brot ab,
    schenkte ihr zu trinken ein.
    »Danke, danke!« sagte sie. »Oh, wie gut Sie
    sind! Danke!« Sie stammelte, sie konnte die
    Worte nicht mehr aussprechen. Als sie die
    Gabel packte, zitterte sie dermaßen, daß sie sie
    wieder fallen ließ. Der Hunger, der sie würgte,
    rief ein greisenhaftes Kopfwackeln bei ihr
    hervor. Sie mußte mit den Fingern zufassen.
    Bei der ersten Kartoffel, die sie sich in den
    Mund stopfte, brach sie in Schluchzen aus.
    Große Tränen rollten ihre Wangen herab,
    fielen auf ihr Brot. Sie aß immerzu, heftig
    atmend und mit zuckendem Kinn verschlang
    sie gierig das mit ihren Tränen getränkte Brot.
    Goujet nötigte sie zu trinken, damit sie nicht
    ersticke; und ihr Glas klapperte leise gegen
    ihre Zähne.
    »Wollen Sie noch Brot?« fragte er halblaut.
    Sie weinte, sagte nein, sagte ja, sie wußte
    nicht. Ach, Herrgott, wie gut und traurig ist es,
    zu essen, wenn man am Verrecken ist!
    Und er stand vor ihr und betrachtete sie. Nun
    sah er sie deutlich im hellen Licht des
    Lampenschirms. Wie war sie gealtert und
    abgewirtschaftet! Die Wärme schmolz den
    Schnee auf ihrem Haar und ihren Kleidern, es
    rieselte an ihr herab. Ihr armer wackelnder
    Kopf war ganz grau, graue Strähnen, die der
    Wind zerzaust hatte, der Hals eingezogen in
    die Schultern, sie sackte zusammen, häßlich
    und dick, daß einen das Weinen ankommen
    konnte. Und er erinnerte sich an beider Liebe,
    als sie ganz rosig war, mit ihrem Bügeleisen
    auf tappte, die Babyfalte sehen ließ, die ihr ein
    so hübsches Halsband um den Hals legte. Zu
    jener Zeit ging er hin und schaute sie
    stundenlang begehrlich an, zufrieden, sie zu
    sehen. Später war sie zur Schmiede
    gekommen, und dort hatten sie große Wonnen
    ausgekostet, während er auf sein Eisen
    losschlug und sie beim Tanz seines Hammers
    verweilte. Wie oft hatte er dann nachts in sein
    Kopfkissen gebissen und gewünscht, sie so in
    seiner Stube zu haben! Oh, er hätte sie
    zerbrochen, wenn er sie genommen hätte, so
    sehr begehrte er sie! Und jetzt gehörte sie ihm,
    er konnte sie nehmen.
    Sie aß ihr Brot auf, sie wischte ihre Tränen auf
    dem Boden der kleinen Pfanne auf, ihre
    großen, stillen Tränen, die immer noch in ihr
    Essen fielen.
    Gervaise erhob sich. Sie war fertig. Sie
    verweilte einen Augenblick mit gesenktem
    Kopf, war verlegen, weil sie nicht wußte, ob er
    sie haben wollte. Als sie dann zu sehen
    glaubte, wie eine Flamme in seinen Augen
    entbrannte, faßte sie an ihre Unterjacke, sie
    machte den ersten Knopf auf.
    Goujet aber war niedergekniet, er ergriff ihre
    Hände und sagte leise:
    »Ich liebe Sie, Madame Gervaise, oh, ich liebe
    Sie immer noch und trotz allem, das schwöre
    ich Ihnen!«
    »Sagen Sie das nicht, Herr Goujet!« rief sie
    aus, ganz von Sinnen, ihn so zu ihren Füßen zu
    sehen. »Nein, sagen Sie das nicht, Sie tun mir
    zu weh!« Und als er immer wieder sagte, er
    könne in seinem Leben nicht zweierlei
    Gefühle haben, wurde sie noch verzweifelter.
    »Nein, nein, ich will nicht mehr, ich schäme
    mich zu sehr ... Um Gottes willen, stehen Sie
    wieder auf! Mir kommt es zu, an der Erde zu
    liegen.«
    Er stand wieder auf, er bebte über und über
    und sagte mit stammelnder Stimme:
    »Wollen Sie mir erlauben, Sie zu küssen?«
    Außer sich vor Überraschung und Erregung,
    fiel ihr kein Wort ein. Sie nickte zustimmend.
    Mein Gott, sie gehörte ihm,

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