Der Todschlaeger
geschoben
hatte, schloß er die Tür. Dort war er zu Hause.
Es war die enge Kammer, die sie kannte, eine
Schülerstube mit einem kleinen eisernen Bett,
das mit weißen Vorhängen versehen war.
Allein die ausgeschnittenen Bilder an den
Wänden hatten sich noch ausgebreitet und
reichten bis zur Decke hinauf. Gervaise wagte
nicht weiter vorzudringen in diese Reinheit
und zog sich zurück, weg von der Lampe. Da
wollte er sie ohne jedes Wort, von Wut erfaßt,
packen und in seinen Armen erdrücken. Aber
ihr schwanden die Kräfte, sie flüsterte:
»O mein Gott ... o mein Gott ...«
Der Ofen, dessen Feuer mit Koksstaub
zugedeckt war, brannte noch, und ein Rest
Ragout, das der Schmied warm gestellt hatte,
weil er glaubte, er würde nach Hause kommen,
dampfte vor dem Aschkasten. Durch die große
Wärme aus ihrer Erstarrung erwacht, hätte
Gervaise sich auf alle viere niedergelassen, um
aus der kleinen Pfanne zu essen. Es ging über
ihre Kräfte, ihr Magen zerriß, und sie bückte
sich mit einem Seufzer.
Aber Goujet hatte begriffen. Er stellte das
Ragout auf den Tisch, schnitt Brot ab,
schenkte ihr zu trinken ein.
»Danke, danke!« sagte sie. »Oh, wie gut Sie
sind! Danke!« Sie stammelte, sie konnte die
Worte nicht mehr aussprechen. Als sie die
Gabel packte, zitterte sie dermaßen, daß sie sie
wieder fallen ließ. Der Hunger, der sie würgte,
rief ein greisenhaftes Kopfwackeln bei ihr
hervor. Sie mußte mit den Fingern zufassen.
Bei der ersten Kartoffel, die sie sich in den
Mund stopfte, brach sie in Schluchzen aus.
Große Tränen rollten ihre Wangen herab,
fielen auf ihr Brot. Sie aß immerzu, heftig
atmend und mit zuckendem Kinn verschlang
sie gierig das mit ihren Tränen getränkte Brot.
Goujet nötigte sie zu trinken, damit sie nicht
ersticke; und ihr Glas klapperte leise gegen
ihre Zähne.
»Wollen Sie noch Brot?« fragte er halblaut.
Sie weinte, sagte nein, sagte ja, sie wußte
nicht. Ach, Herrgott, wie gut und traurig ist es,
zu essen, wenn man am Verrecken ist!
Und er stand vor ihr und betrachtete sie. Nun
sah er sie deutlich im hellen Licht des
Lampenschirms. Wie war sie gealtert und
abgewirtschaftet! Die Wärme schmolz den
Schnee auf ihrem Haar und ihren Kleidern, es
rieselte an ihr herab. Ihr armer wackelnder
Kopf war ganz grau, graue Strähnen, die der
Wind zerzaust hatte, der Hals eingezogen in
die Schultern, sie sackte zusammen, häßlich
und dick, daß einen das Weinen ankommen
konnte. Und er erinnerte sich an beider Liebe,
als sie ganz rosig war, mit ihrem Bügeleisen
auf tappte, die Babyfalte sehen ließ, die ihr ein
so hübsches Halsband um den Hals legte. Zu
jener Zeit ging er hin und schaute sie
stundenlang begehrlich an, zufrieden, sie zu
sehen. Später war sie zur Schmiede
gekommen, und dort hatten sie große Wonnen
ausgekostet, während er auf sein Eisen
losschlug und sie beim Tanz seines Hammers
verweilte. Wie oft hatte er dann nachts in sein
Kopfkissen gebissen und gewünscht, sie so in
seiner Stube zu haben! Oh, er hätte sie
zerbrochen, wenn er sie genommen hätte, so
sehr begehrte er sie! Und jetzt gehörte sie ihm,
er konnte sie nehmen.
Sie aß ihr Brot auf, sie wischte ihre Tränen auf
dem Boden der kleinen Pfanne auf, ihre
großen, stillen Tränen, die immer noch in ihr
Essen fielen.
Gervaise erhob sich. Sie war fertig. Sie
verweilte einen Augenblick mit gesenktem
Kopf, war verlegen, weil sie nicht wußte, ob er
sie haben wollte. Als sie dann zu sehen
glaubte, wie eine Flamme in seinen Augen
entbrannte, faßte sie an ihre Unterjacke, sie
machte den ersten Knopf auf.
Goujet aber war niedergekniet, er ergriff ihre
Hände und sagte leise:
»Ich liebe Sie, Madame Gervaise, oh, ich liebe
Sie immer noch und trotz allem, das schwöre
ich Ihnen!«
»Sagen Sie das nicht, Herr Goujet!« rief sie
aus, ganz von Sinnen, ihn so zu ihren Füßen zu
sehen. »Nein, sagen Sie das nicht, Sie tun mir
zu weh!« Und als er immer wieder sagte, er
könne in seinem Leben nicht zweierlei
Gefühle haben, wurde sie noch verzweifelter.
»Nein, nein, ich will nicht mehr, ich schäme
mich zu sehr ... Um Gottes willen, stehen Sie
wieder auf! Mir kommt es zu, an der Erde zu
liegen.«
Er stand wieder auf, er bebte über und über
und sagte mit stammelnder Stimme:
»Wollen Sie mir erlauben, Sie zu küssen?«
Außer sich vor Überraschung und Erregung,
fiel ihr kein Wort ein. Sie nickte zustimmend.
Mein Gott, sie gehörte ihm,
Weitere Kostenlose Bücher