Der Todschlaeger
er konnte mit ihr
machen, was ihm beliebte.
Aber er streckte lediglich die Lippen vor.
»Das genügt zwischen uns, Madame
Gervaise«, murmelte er. »Das ist unsere ganze
Freundschaft, nicht wahr?« Er küßte sie auf
die Stirn, auf eine Strähne ihres grauen Haars.
Er hatte niemanden geküßt, seit seine Mutter
tot war. Nur seine gute Freundin Gervaise
blieb ihm in seinem Dasein. Als er sie mit so
großer Ehrfurcht geküßt hatte, da wich er
zurück und fiel quer über sein Bett mit vom
Schluchzen zersprungener Kehle. Und
Gervaise konnte nicht länger dableiben; es war
zu traurig und zu abscheulich, sich unter
diesen Umständen wiederzufinden, wenn man
sich liebte. Sie rief ihm zu:
»Ich liebe Sie, Herr Goujet, ich liebe Sie
ebenfalls sehr ... Oh, es ist nicht möglich, ich
verstehe ... Leben Sie wohl, leben Sie wohl,
denn das würde uns beide ersticken.«
Sie rannte durch Frau Goujets Stube, sie fand
sich auf dem Pflaster wieder. Als sie wieder zu
sich kam, hatte sie in der Rue de la Goutted'Or
geläutet, und Boche öffnete die Haustür. Das
Haus war ganz finster. Sie trat dort ein wie zu
ihrer Trauerzeit. Zu dieser Nachtstunde schien
die gähnende und baufällige Toreinfahrt ein
geöffnetes Maul zu sein. Wenn man bedenkt,
daß sie einst nach einem Winkel in diesem
Kasernengerippe gestrebt hatte! Ihre Ohren
waren wohl verstopft gewesen, daß sie damals
die verdammte Verzweiflungsmusik nicht
gehört hatte, die hinter den Mauern
schnarchte? Seit dem Tage, da sie die Füße
hier hereingesetzt, hatte sie angefangen, rasch
herunterzukommen. Ja, es mußte ja Unglück
bringen, wenn man so aufeinanderhockte in
diesen Arbeiterhäusern, diesen großen Huren;
dort konnte man sich die Cholera vom Elend
holen. An diesem Abend schien alle Welt
verreckt zu sein. Sie horchte lediglich, wie die
Boches rechts schnarchten, während Lantier
und Virginie links wie Katzen schnurrten, die
bei geschlossenen Augen nicht schlafen und
denen warm ist. Auf dem Hof glaubte sie
mitten auf einem richtigen Friedhof zu sein;
der Schnee bildete auf der Erde ein blasses
Viereck; die hohen Fassaden stiegen fahlgrau,
ohne jedes Licht, gleich Mauerstücken von
Ruinen empor; und nicht ein Seufzer, das
Einhüllen eines ganzen vor Kälte und Hunger
erstarrten Dorfes in ein Leichentuch. Sie
mußte über einen schwarzen Bach
hinwegsteigen, eine von der Färberei
abgelassene Lache, die dampfte und sich ein
schmutziges Bett in das Weiß des Schnees
bahnte. Das war Wasser von der Farbe ihrer
Gedanken. Sie waren dahingeflossen, die
schönen zartblauen und zartrosa Wasser!
Als sie dann in der Dunkelheit die sechs
Stockwerke hinaufstieg, konnte sie nicht
umhin zu lachen; ein garstiges Lachen, das ihr
weh tat. Sie erinnerte sich an ihr Ideal von
ehemals: in Ruhe arbeiten, immer Brot zu
essen haben, ein einigermaßen sauberes Nest
zum Schlafen haben, seine Kinder gut
erziehen, nicht geschlagen werden, in seinem
Bett sterben. Nein, wirklich, es war komisch,
wie das alles in Erfüllung ging! Sie arbeitete
nicht mehr, sie aß nicht mehr, sie schlief auf
Unrat, ihre Tochter trieb sich nachts herum,
und ihr Mann verpaßte ihr Dresche; es blieb
ihr nichts weiter übrig, als auf dem Pflaster zu
verrecken, und das würde sofort geschehen,
wenn sie den Mut fand, sich bei ihrer
Rückkehr in ihre Wohnung aus dem Fenster zu
stürzen. Hätte man da nicht gesagt, sie habe
vom Himmel verlangt, daß er ihr
dreißigtausend Francs Jahreszinsen schenke
und Rücksicht auf sie nehme? Ach, wirklich,
in diesem Leben kann man noch so bescheiden
sein, es wird einem was gehustet! Nicht einmal
Futter und eine Bleibe, das war das allgemeine
Los, Und was ihr böses Lachen noch
verstärkte, war die Erinnerung an ihre schöne
Hoffnung, sich nach zwanzig Jahren Arbeit als
Plätterin aufs Land zurückzuziehen. Na schön,
sie ging ja aufs Land. Sie wollte ihr Fleckchen
Grün auf dem Friedhof PèreLachaise.
Als sie in den Korridor einbog, war sie wie
irre. In ihrem armen Kopf drehte sich alles. Im
Grunde rührte ihr großer Schmerz daher, daß
sie dem Schmied für immer Lebewohl gesagt
hatte. Es war aus zwischen ihnen, sie würden
sich niemals wiedersehen. Daraufhin kamen
dann alle anderen Unheilsgedanken und
zerbrachen ihr vollends den Schädel. Im
Vorübergehen steckte sie die Nase bei den
Bijards hinein, sie erblickte die tote Lalie, die
zufrieden aussah, lang ausgestreckt zu liegen,
und dabei war,
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