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Der Todschlaeger

Der Todschlaeger

Titel: Der Todschlaeger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlo von der Birke
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er konnte mit ihr
    machen, was ihm beliebte.
    Aber er streckte lediglich die Lippen vor.
    »Das genügt zwischen uns, Madame
    Gervaise«, murmelte er. »Das ist unsere ganze
    Freundschaft, nicht wahr?« Er küßte sie auf
    die Stirn, auf eine Strähne ihres grauen Haars.
    Er hatte niemanden geküßt, seit seine Mutter
    tot war. Nur seine gute Freundin Gervaise
    blieb ihm in seinem Dasein. Als er sie mit so
    großer Ehrfurcht geküßt hatte, da wich er
    zurück und fiel quer über sein Bett mit vom
    Schluchzen zersprungener Kehle. Und
    Gervaise konnte nicht länger dableiben; es war
    zu traurig und zu abscheulich, sich unter
    diesen Umständen wiederzufinden, wenn man
    sich liebte. Sie rief ihm zu:
    »Ich liebe Sie, Herr Goujet, ich liebe Sie
    ebenfalls sehr ... Oh, es ist nicht möglich, ich
    verstehe ... Leben Sie wohl, leben Sie wohl,
    denn das würde uns beide ersticken.«
    Sie rannte durch Frau Goujets Stube, sie fand
    sich auf dem Pflaster wieder. Als sie wieder zu
    sich kam, hatte sie in der Rue de la Goutted'Or
    geläutet, und Boche öffnete die Haustür. Das
    Haus war ganz finster. Sie trat dort ein wie zu
    ihrer Trauerzeit. Zu dieser Nachtstunde schien
    die gähnende und baufällige Toreinfahrt ein
    geöffnetes Maul zu sein. Wenn man bedenkt,
    daß sie einst nach einem Winkel in diesem
    Kasernengerippe gestrebt hatte! Ihre Ohren
    waren wohl verstopft gewesen, daß sie damals
    die verdammte Verzweiflungsmusik nicht
    gehört hatte, die hinter den Mauern
    schnarchte? Seit dem Tage, da sie die Füße
    hier hereingesetzt, hatte sie angefangen, rasch
    herunterzukommen. Ja, es mußte ja Unglück
    bringen, wenn man so aufeinanderhockte in
    diesen Arbeiterhäusern, diesen großen Huren;
    dort konnte man sich die Cholera vom Elend
    holen. An diesem Abend schien alle Welt
    verreckt zu sein. Sie horchte lediglich, wie die
    Boches rechts schnarchten, während Lantier
    und Virginie links wie Katzen schnurrten, die
    bei geschlossenen Augen nicht schlafen und
    denen warm ist. Auf dem Hof glaubte sie
    mitten auf einem richtigen Friedhof zu sein;
    der Schnee bildete auf der Erde ein blasses
    Viereck; die hohen Fassaden stiegen fahlgrau,
    ohne jedes Licht, gleich Mauerstücken von
    Ruinen empor; und nicht ein Seufzer, das
    Einhüllen eines ganzen vor Kälte und Hunger
    erstarrten Dorfes in ein Leichentuch. Sie
    mußte über einen schwarzen Bach
    hinwegsteigen, eine von der Färberei
    abgelassene Lache, die dampfte und sich ein
    schmutziges Bett in das Weiß des Schnees
    bahnte. Das war Wasser von der Farbe ihrer
    Gedanken. Sie waren dahingeflossen, die
    schönen zartblauen und zartrosa Wasser!
    Als sie dann in der Dunkelheit die sechs
    Stockwerke hinaufstieg, konnte sie nicht
    umhin zu lachen; ein garstiges Lachen, das ihr
    weh tat. Sie erinnerte sich an ihr Ideal von
    ehemals: in Ruhe arbeiten, immer Brot zu
    essen haben, ein einigermaßen sauberes Nest
    zum Schlafen haben, seine Kinder gut
    erziehen, nicht geschlagen werden, in seinem
    Bett sterben. Nein, wirklich, es war komisch,
    wie das alles in Erfüllung ging! Sie arbeitete
    nicht mehr, sie aß nicht mehr, sie schlief auf
    Unrat, ihre Tochter trieb sich nachts herum,
    und ihr Mann verpaßte ihr Dresche; es blieb
    ihr nichts weiter übrig, als auf dem Pflaster zu
    verrecken, und das würde sofort geschehen,
    wenn sie den Mut fand, sich bei ihrer
    Rückkehr in ihre Wohnung aus dem Fenster zu
    stürzen. Hätte man da nicht gesagt, sie habe
    vom Himmel verlangt, daß er ihr
    dreißigtausend Francs Jahreszinsen schenke
    und Rücksicht auf sie nehme? Ach, wirklich,
    in diesem Leben kann man noch so bescheiden
    sein, es wird einem was gehustet! Nicht einmal
    Futter und eine Bleibe, das war das allgemeine
    Los, Und was ihr böses Lachen noch
    verstärkte, war die Erinnerung an ihre schöne
    Hoffnung, sich nach zwanzig Jahren Arbeit als
    Plätterin aufs Land zurückzuziehen. Na schön,
    sie ging ja aufs Land. Sie wollte ihr Fleckchen
    Grün auf dem Friedhof PèreLachaise.
    Als sie in den Korridor einbog, war sie wie
    irre. In ihrem armen Kopf drehte sich alles. Im
    Grunde rührte ihr großer Schmerz daher, daß
    sie dem Schmied für immer Lebewohl gesagt
    hatte. Es war aus zwischen ihnen, sie würden
    sich niemals wiedersehen. Daraufhin kamen
    dann alle anderen Unheilsgedanken und
    zerbrachen ihr vollends den Schädel. Im
    Vorübergehen steckte sie die Nase bei den
    Bijards hinein, sie erblickte die tote Lalie, die
    zufrieden aussah, lang ausgestreckt zu liegen,
    und dabei war,

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