Der Todschlaeger
gab
endlose Klatschereien. Boche hatte einen
Tischler gekannt, der sich ganz nackt auf die
Rue SaintMartin gestellt hatte und der Polka
tanzend gestorben war; der trank Absinth. Die
Damen kugelten sich vor Lachen, weil ihnen
das trotz allem komisch vorkam, obwohl es
traurig war. Da man nicht so recht begriff,
schob Gervaise dann die Leute beiseite, schrie,
daß man ihr Platz machen solle; und während
die anderen zusahen, machte sie grölend,
hüpfend, sich unter abscheulichen Grimassen
verrenkend, mitten in der Conciergeloge
Coupeau nach. Ja, Ehrenwort, genau so sei es
gewesen! Da waren die anderen verblüfft:
Nicht möglich, ein solches Treiben würde ein
Mensch keine drei Stunden aushalten. Na
schön, sie schwor es bei allem, was ihr heilig
war, Coupeau halte es seit gestern aus, schon
sechsunddreißig Stunden. Übrigens könne man
ja hingehen und es sich ansehen, wenn man ihr
nicht glaube. Aber Frau Lorilleux erklärte,
vielen Dank, sie sei aus SainteAnne
wiedergekommen; sie würde sogar ihren Mann
daran hindern, den Fuß dort hineinzusetzen.
Was Virginie betraf, deren Laden immer
schlechter ging und die eine
Leichenbittermiene machte, so begnügte sie
sich zu murmeln, daß das Leben nicht immer
heiter sei, ach, Kreuzdonnerwetter, nein! Man
trank den Schwarzbeerlikör aus, und Gervaise
wünschte allen zusammen einen guten Abend.
Als sie nicht mehr sprach, setzte sie sofort ein
Gesicht auf wie jemand, der nicht alle Tassen
im Schrank hat, hatte die Augen weit
aufgerissen. Zweifellos sah sie ihren Mann
Walzer tanzen.
Am nächsten Morgen nahm sie sich beim
Aufstehen vor, nicht mehr dort hinzugehen.
Wozu? Sie wollte nicht auch noch den Grips
verlieren. Indessen verfiel sie alle zehn
Minuten wieder in ihr Nachdenken, sie war
abwesend, wie man sagt. Es wäre doch
sonderbar, wenn er immer noch sein Bein
kreisen ließ. Als es Mittag schlug, konnte sie
es nicht länger aushalten, sie merkte die Länge
des Weges nicht, so sehr beschäftigten ihr Hirn
Verlangen und Angst, das zu sehen, was sie
erwartete.
Oh, sie brauchte sich nicht nach dem Befinden
zu erkundigen. Schon unten an der Treppe
hörte sie Coupeaus Gesang. Genau dieselbe
Melodie, genau derselbe Tanz, Sie konnte
glauben, sie sei soeben in dieser Minute
hinuntergegangen und gehe wieder hinauf. Der
Wärter vom Vortage, der Töpfe mit Kräutertee
über den Korridor trug, zwinkerte ihr zu, um
sich liebenswürdig zu zeigen, als er ihr
begegnete.
»Also immer noch!« sagte sie.
»Oh, immer noch«, antwortete er, ohne
stehenzubleiben.
Sie trat ein, aber sie blieb in der Ecke an der
Tür, weil Besuch bei Coupeau war. Der
blonde, rosige Assistenzarzt stand, weil er
seinen Stuhl einem alten, ordengeschmückten
Herrn überlassen hatte, der kahlköpfig war und
dessen Gesicht wie eine Marderschnauze
aussah. Das war sicherlich der Chefarzt, denn
seine Blicke waren schmal und durchdringend
wie Nagelbohrer. Alle Quacksalber haben dir
solche Blicke.
Im übrigen war Gervaise nicht wegen dieses
Herrn gekommen; sie reckte sich hinter seinem
Schädel empor und verschlang Coupeau mit
den Augen. Dieser Rasende tanzte und brüllte
noch heftiger als gestern. Früher hatte sie zwar
auf Bällen um Mittfasten gesehen, wie
handfeste Waschhausburschen es eine ganze
Nacht lang hoch hergehen ließen, aber
niemals, nie und nimmer hätte sie sich
eingebildet, daß ein Mann so lange daran
Vergnügen finden könnte; wenn sie
»Vergnügen finden« sagte, so war das nur so
eine Redensart, denn es ist kein Vergnügen
dabei, wenn man gegen seinen Willen
Karpfensprünge macht, als habe man ein
Pulvermagazin verschluckt. Coupeau, der vor
Schweiß triefte, dampfte noch mehr, das war
alles. Sein Mund schien größer geworden zu
sein durch das viele Schreien. Oh, schwangere
Damen taten gut daran, draußen zu bleiben. Er
war so oft von der Matratze zum Fenster
marschiert, daß man seinen kurzen Weg am
Boden sah; die Strohmatte war von seinen
Latschen abgenutzt.
Nein, wahrhaftig, das bot keinen schönen
Anblick, und zitternd fragte sich Gervaise,
warum sie wiedergekommen war. Wenn man
bedenkt, daß man sie am vergangenen Abend
bei den Boches beschuldigt hatte, die
Darstellung zu übertreiben! Ach was, nicht
halb so gut hatte sie es gemacht! Nun sah sie
besser, wie Coupeau sich anstellte, sie würde
es nie wieder vergessen, die weit
aufgerissenen Augen ins Leere gerichtet.
Dennoch fing sie zwischen dem
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