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Der Todschlaeger

Der Todschlaeger

Titel: Der Todschlaeger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlo von der Birke
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nicht
    gewohnt, Treppen zu steigen. Diese Mauer,
    die immer rundherum ging, flüchtig gesehene
    Wohnungen, die vorüberzogen, brachten ihr
    schier den Schädel zum Platzen. Außerdem
    versperrte eine Familie den Treppenabsatz; der
    Vater wusch auf einem kleinen Kachelherd
    neben dem Ausgußbecken Teller ab, während
    die am Geländer lehnende Mutter den
    Säugling säuberte, bevor sie ihn zu Bett
    brachte. Coupeau machte der jungen Frau
    jedoch Mut. Sie waren fast angelangt. Und als
    er endlich im sechsten Stock war, wandte er
    sich um, um ihr mit einem Lächeln
    beizustehen. Mit erhobenem Kopf suchte sie
    zu ergründen, woher ein dünnes Stimmchen
    kommen mochte, dem sie von der ersten Stufe
    an lauschte, das hell und durchdringend war
    und die anderen Geräusche übertönte. Das war
    eine kleine alte Frau unter dem Dach, die sang
    und dabei Puppen zu dreizehn Sous ankleidete.
    Außerdem sah Gervaise in dem Augenblick,
    als ein großes Mädchen mit einem Eimer in
    eine anstoßende Stube zurückkehrte, ein nicht
    gemachtes Bett, auf dem ein Mann in
    Hemdsärmeln, den Blick nach oben gerichtet,
    hingesielt wartete. An der wieder
    geschlossenen Tür war auf einer
    handgeschriebenen Visitenkarte zu lesen:
    »Mademoiselle Clémence, Plätterin.« Da
    überkam Gervaise, deren Beine wie
    zerschlagen waren und der der Atem wegblieb,
    ganz oben die Neugier, sich über das Geländer
    zu beugen; nun war es die Gaslampe unten, die
    auf dem Grunde des engen Schachtes der
    sechs Stockwerke wie ein Stern wirkte. Die
    Gerüche und das ungeheuere und grollende
    Leben des Hauses drangen in einem einzigen
    Atem zu ihr herauf, schlugen mit einem
    Gluthauch in ihr unruhiges Gesicht, das sich
    dort wie am Rande eines Abgrunds vorwagte.
    »Wir sind noch nicht angelangt«, sagte
    Coupeau. »Oh, es ist eine richtige Reise!«
    Er hatte sich nach links in einen langen Gang
    gewandt. Zweimal bog er ab, das erstemal
    wiederum nach links, das zweitemal nach
    rechts. Der Gang zog sich immer länger hin,
    gabelte sich, war enger und rissig geworden
    und sein Putz abgebröckelt und wurde dann
    und wann von einer dünnen Gasflamme
    erhellt. Und die einförmigen Türen, die sich
    aneinanderreihten wie Gefängnis oder
    Klostertüren, zeigten, fast alle weit geöffnet,
    weiterhin Häuslichkeiten voller Elend und
    Arbeit, die der warme Juniabend mit
    rotgelbem Wrasen erfüllte. Schließlich
    gelangten sie an das Ende eines völlig
    finsteren Flurs.
    »Wir sind da«, meinte der Bauklempner.
    »Vorsicht! Hallen Sie sich an der Wand fest,
    da sind drei Stufen.«
    Und vorsichtig machte Gervaise in der
    Dunkelheit noch etwa zehn Schritte. Sie
    stolperte, zählte die drei Stufen ab. Aber
    Coupeau hatte soeben hinten im Flur eine Tür
    aufgestoßen, ohne anzuklopfen. Ein greller
    Lichtschein breitete sich auf dem mit Fliesen
    belegten Fußboden aus. Sie traten ein.
    Es war ein äußerst enger Raum, eine Art
    Schlauch, der die Verlängerung des
    eigentlichen Ganges zu sein schien. Ein
    verschossener Wollvorhang, der in diesem
    Augenblick von einer Schnur hochgehalten
    wurde, trennte den Schlauch in zwei Teile. Die
    erste Abteilung enthielt ein Bett, das in einen
    Winkel unter die abgeschrägte Decke
    geschoben worden war, einen vom
    Abendessen noch lauwarmen gußeisernen
    Ofen, zwei Stühle, einen Tisch und einen
    Schrank, dessen Aufsatz hatte abgesägt
    werden müssen, damit er zwischen Bett und
    Tür Platz finden konnte. In der zweiten
    Abteilung war die Werkstatt eingerichtet: im
    Hintergrund eine schmale Schmiede mit ihrem
    Blasebalg, rechts ein an der Wand mit
    eingegossenen Klammern befestigter
    Schraubstock unter einem Regal, auf dem
    Eisenkram herumlag, links beim Fenster ein
    ganz kleiner Werktisch, der mit Zangen,
    großen Scheren und winzig kleinen Sägen, alle
    schmierig und sehr schmutzig, überhäuft war.
    »Wir sind's!« rief Coupeau und trat bis an den
    Wollvorhang vor.
    Aber es kam nicht sofort eine Antwort. Heftig
    aufgeregt und vor allem von der Vorstellung
    bewegt, daß sie einen Ort voller Gold betreten
    sollte, hielt sich Gervaise hinter dem Arbeiter,
    wobei sie stammelte und zur Begrüßung
    mehrmals mit dem Kopf zu wackeln wagte.
    Die starke Helligkeit – eine auf dem Werktisch
    brennende Lampe, eine in der Schmiede
    lodernde Kohlenglut – steigerte ihre
    Verwirrung noch. Aber schließlich sah sie
    Frau Lorilleux, die klein, rothaarig und
    ziemlich beleibt war und mit der ganzen Kraft
    ihrer kurzen Arme mit Hilfe einer großen
    Zange

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