Der Törichte Engel
Erinnerung, als wäre es so gewesen.
Der Erzähler war ein Problem. Im Grunde das Problem. Wäre es nur um etwas unberechenbares Verhalten gegangen, hätte sie sich vielleicht bis zum nächsten Ersten durchschummeln und dann die Medikamente wieder einnehmen können, ohne dass Theo etwas davon gemerkt hätte, aber als der Erzähler auftauchte, wusste sie, dass sie Hilfe brauchte. Sie hatte sich das Buch der Anonymen Narkotiker genommen, das Theos ständiger Begleiter gewesen war, als er seine Marihuana-Sucht bekämpft hatte. Ständig hatte er davon gesprochen, dass er die Schritte genau befolgen musste und es anders nie geschafft hätte. Sie musste etwas unternehmen, um die schwammiger werdende Grenze zwischen Molly Michon, der Party-Planerin, Keksbäckerin und ehemaligen Schauspielerin, und Kendra, der Mutantenbezwingerin und verführerischen Kriegerin, zu stärken.
»›Zweiter Schritt‹«, las sie. »›Akzeptieren Sie, dass eine höhere Macht als wir selbst unseren Verstand wieder gesunden lassen kann.‹« Sie überlegte einen Moment und blickte aus dem Fenster, ob sie die Scheinwerfer von Theos Wagen sah. Sie hoffte inständig, dass sie alle zwölf Schritte schaffen würde, bevor er nach Hause kam.
»Nigoth, der Wurmgott, soll meine höhere Macht sein«, erklärte sie, nahm ihr zerbrochenes Breitschwert vom Kaffeetisch und schwenkte es trotzig vor dem Sony-Wega-Fernseher, der dunkel in der Ecke thronte. »In Nigoths Namen will ich mich aufmachen und allen Mutanten oder Sandpiraten den Garaus machen, die meinen Weg kreuzen, denn ihr Leben will ich opfern, und ihre blutigen Hoden sollen den Totempfahl meiner Hütte schmücken.«
» Und die Bösen sollen vor der Erhabenheit deiner dreckverschmierten, wohlgeformten Schenkel kauern « , sagte der Erzähler mit einiger Begeisterung.
»Versteht sich von selbst«, erwiderte Molly. »Okay, dritter Schritt. ›Übereignen Sie Ihr Leben Gott, wie Sie ihn begreifen.‹«
» Nigoth verlangt ein Opfer! « , rief der Erzähler. » Ein Körperteil! Hack es dir vom Leib und spieß es zuckend auf das purpurrote Horn des Wurmgottes. «
Molly schüttelte den Kopf, um den Erzähler ein wenig aufzurütteln. »Alter«, sagte sie. Molly »alterte« nur selten jemanden. Theo hatte das Wort während einer Patrouille im Skateboard-Park von Pine Cove aufgeschnappt und verwendete es ganz allgemein, um seinem Staunen angesichts der Unverfrorenheit dessen Ausdruck zu verleihen, was jemand gesagt oder getan hatte – die korrekte Aussprache des Wortes wäre Aaaalter, bitte, das soll ja wohl ein Witz sein, dass du mir so was überhaupt vorschlägst. Hast du Halluzinationen, oder was? (In letzter Zeit hatte Theo öfter »Yo, voll fett, yo« ausprobiert. Aber Molly hatte ihm verboten, es außerhalb der Wohnung zu benutzen, denn – wie sie ihm erklärte – es gäbe kaum etwas Absurderes als Hip-Hop-Slang aus dem Munde eines komischen, großen weißen Vogels von Mitte vierzig. »Großer weißer Albatros, yo!«, hatte Theo sie korrigiert.)
Derart »gealtert« schraubte der Erzähler seine Ansprüche herunter. » Dann ein Finger! Der abgehackte Finger von einem Warrior Babe …«
»Nie im Leben«, sagte Molly.
» Eine Locke von deinem Haar! Nigoth verlangt … «
»Ich hatte eher daran gedacht, eine Kerze anzuzünden, als Symbol dafür, dass ich mich meiner höheren Macht übereigne.« Und um ihre Aufrichtigkeit zu illustrieren, nahm sie ein Einwegfeuerzeug vom Kaffeetisch und zündete eine der Duftkerzen an, die sie in der Mitte des Tisches auf einem Tablett aufbewahrte.
» Dann ein voll gerotztes Taschentuch! « , schlug der Erzähler vor.
Aber Molly war schon beim vierten Schritt. » ›Nehmen Sie eine eingehende und furchtlose Inventur Ihrer selbst vor.‹ Ich hab keine Ahnung, was das bedeutet.«
» Also, da fick mich doch ein blinder Storch, wenn ich das verstehe « , sagte der Erzähler.
Molly beschloss, den Erzähler in diesem Punkt gar nicht zu beachten. Wenn die Schritte funktionierten, wie sie es sich erhoffte, würde sich der Erzähler schließlich schon bald in Luft auflösen. Auf der Suche nach Klärung tauchte sie in das blaue Buch ein.
Nach weiterem Lesen schien es, als sollte man eine Liste all dessen anlegen, was mit dem eigenen Charakter nicht stimmte.
» Schreib auf, dass du total bekloppt bist « , sagte der Erzähler.
»Hab ich«, sagte Molly. Dann fiel ihr auf, dass dieses Buch empfahl, eine Liste sämtlicher Ärgernisse anzulegen. Sie war nicht ganz
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