Der Tote am Lido
alles andere als sicher. Aber das würde er Tarantella nicht sagen. »Es ist nicht mein Kind. Die Mutter hat so entschieden, und ich respektiere das.«
Tarantella nickte. »Ich bewundere Ihren Mut.« Lunau hätte am liebsten gesagt, dass er weder mutig noch bewundernswert war, sondern ein unvorsichtiger Tölpel, der an diesem Unglück Schuld war und irgendwie versuchte, den Schaden zu begrenzen.
In der Zwischenzeit hatte Tarantella ein paar Zeilen auf eine Karteikarte geschrieben und etwas auf einen USB-Stick geladen. Sein Jackettärmel machte einen unnatürlichenKnick. Angeblich hatte man ihm mit einem Golfschläger Ellbogen und Unterarm zertrümmert. Er gab Lunau die Karte und schaute ihm dabei wieder ruhig und ausführlich in die Augen. Lunaus Blick war inzwischen scharf. Er erkannte erneut die unverbrauchte, fast kindliche Energie, die in diesen Augen steckte. Wie viele Vorwürfe hatte dieser Mann sich gemacht? Wie oft war er schweißgebadet in der Nacht aufgeschreckt, wie oft hatte er sich der ohnmächtigen Wut seiner Frau stellen müssen? Und wie hatte er sein Gleichgewicht wiedergefunden? Lunau nahm sich vor, den Mann irgendwann danach zu fragen. Wenn alles überstanden war.
Lunau schob die Karte in seine Tasche und streckte Tarantella die Hand hin.
»Sie brauchen wirklich keine Waffe?«, fragte dieser.
Lunau schüttelte den Kopf.
»Viel Glück.« Tarantella schlug in Lunaus Hand ein, zog ihn zu sich heran und gab ihm zwei Küsse auf die Wange. Dasselbe tat er mit Amanda.
Als sie hinaus in die Nacht traten, war die schwüle Hitze plötzlich verflogen. An den Bäumen glänzte der Tau.
19
Sara war erwacht, weil ihre Blase drückte. Der Mann hatte ihr einen Eimer gebracht und in die Ecke gestellt, aber Sara hatte noch immer Angst sich zu bewegen. Wenn sie aufstand, mochte ER das als Rebellion missverstehen.
Unsinn, dachte sie. Den Eimer hat ER mitgebracht, damit ich ihn benutze. Sie rollte sich vom Bauch auf die Seite, die Kette klirrte leise, und von ihren Handgelenken kroch ein feiner Schmerz bis in die Ellbogen. Die Hände waren taub und geschwollen. Sie zog die Knie an, schob sich bis zur Wand, lehnte den Rücken dagegen und stemmte sich hoch. In ihren Beinen kribbelte es, aber sie konnte gehen. Die Kette, die ER durch den Kabelbinder gefädelt hatte, zog sie wie einen langen klimpernden Rattenschwanz hinter sich her. Sie stellte sich vor den Eimer, fasste mit den abgespreizten Daumen von hinten in ihr Bikini-Unterteil. Doch dann hielt sie inne. Sie hatte vorhin mehrere Stimmen gehört. Warum hatte ER seine Freunde eingeladen? Was wollten sie hier? Was wollten sie von ihr? Sie würde sich nicht vor ihnen ausziehen. Sie suchte die Wände nach Gucklöchern und Kameralinsen ab. Aber in dem schwachen Lichtschein, der durch eine Luke unter der Decke fiel, war wenig zu erkennen. Nur gespenstische Schatten auf den Wänden. Leopardenmuster, der Kopf einer Eule, eine alte, löchrige Hose. Sie ging durch den Raum und wartete darauf, dass die Kette sich straffte, aber sie war länger als der Raum. Sara fing an, kreuz und quer durch das Rechteck zu laufen, bis ihre Blase sich wieder meldete und heftig gegen die Bauchdecke klopfte.
Die Kette war mit einem schweren Vorhängeschloss an ein Türscharnier geschlossen. Die Tür war massiv und schwer.
Sara setzte sich vor die Tür und betrachtete dasScharnier. Sie ertastete ein Eisenband mit vier großen Schrauben. Sie suchte den Boden nach einem spitzen Gegenstand ab, den sie als Schraubenzieher benutzen konnte. Alles was sie fand, war ein verrosteter Zimmermannsnagel mit einem flachen, kreisrunden Kopf.
20
Amanda jagte den Mini über die breite Via Comacchio und schnitt die Kurven in den Verkehrskreiseln, indem sie über die angeböschten Inseln fuhr.
Lunau schaute auf die Karteikarte. Dort stand, in einer schönen, sehr deutlichen Handschrift, Michaels Adresse in der Via Modena. Er schaltete seinen Rechner ein und schob den USB-Stick ein.
»Wohin?«, fragte Amanda.
»Zu meinem Wagen.«
»Wollen wir nicht zu Michaels Wohnung?«, fragte Amanda in einem empörten Ton.
»Um Michael werde ich mich alleine kümmern.«
Sie gab noch ein bisschen mehr Gas. »Ich habe keine Angst.«
»Solltest du aber. Ich selbst habe Angst. Außerdem will ich nicht, dass er mich in Begleitung anderer Leute sieht. Er könnte dich für eine Zivilfahnderin halten. Vielleicht kennt er dich sogar.«
»Ich will dir aber helfen.«
»Wieso?«
Amanda schien nach den richtigen Worten zu
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