Der Tote im Eiskeller
worden. Bis gestern hatte er das wie jedermann geglaubt, weil niemand auf eine andere Idee gekommen wäre. Frauen! Wem sollte das einfallen. Heute war er sicher gewesen, die Männer beharrten auf ihrer Version, weil sie der Schande und dem Gelächter entgehen wollten, wenn bekannt würde, wem sie tatsächlich unterlegen waren. Und warum, zum Teufel, hatte sie Karla erwähnt? Dreimal! Oder gar vier? Warum Karla? Er fand keine Antwort. Keine, die ihm gefiel.
Und jetzt? Ein Krug voll Branntwein, das wäre jetzt das Richtige. Die Tür öffnete sich, Grabbe kam mit einem Leuchter herein, stellte ihn auf den Tisch und verließ, als der Weddemeister ihn nicht beachtete, leise den Raum.
Wagner schob den Hocker zurück und begann wieder auf und ab zu marschieren. Er ging in Gedanken seine Zettel durch, zog sie zweimal aus der Tasche, um eine Erinnerung zu prüfen. Wenn er sie zurückschob, berührten seine Fingerspitzen die Rose aus Walrosszahn, als wolle sie seine Gedanken auf sich lenken. Sie war das Einzige, was er in dem Keller gefunden hatte. Außer einer dieser verbeulten kleinen Laternen mit heruntergebrannter Kerze, wie es sie zu Hunderten, zu Tausenden gab und von der niemand wusste, wem sie gehörte. Aber die Rose war erst an der Reihe, nachdem er alles andere in seinem Kopf sortierthatte. Wieder ließ er seine Finger über die Ränder der beinernen Blütenblätter gleiten, sie waren ihm vertraut, als sei der Fund aus dem Eiskeller sein Talisman.
Da war Viktor Malthus’ Tod. Warum hatte er sich so verwirren lassen? Was war mit diesem Fall von selbstherrlicher Bestrafung eines Gemeinen, von dem Madame Herrmanns berichtet hatte? Womöglich gab es da eine Verbindung. Der Mann würde kaum ganz allein in der Welt stehen. Andererseits musste der Kerl dankbar sein. Wer weiß, wie das Kriegsgericht entschieden hätte.
Der Mord an Malthus. Die nächtlichen Überfälle. Wenn sich nun eine ganze Bande zusammengetan hatte, etwas ausgeheckt, das alle wollten, aber nicht alle ausführen mussten? Jedenfalls nicht gemeinsam. Die Gärten!, dachte er plötzlich. Die Gartenarbeit. Wenn Neele Ellert und Magda Knebusch sich tatsächlich auf Gartenarbeit verstanden – es war immerhin möglich und musste bedacht werden –, warum sollten sie nicht auch in anderen Gärten als dem Hecker’schen als Tagelöhnerinnen gearbeitet haben? Beide Frauen hatten zuvor ihre Arbeit verloren. Sie konnten die Hände nicht einfach in den Schoß legen.
Wenn es so war, konnte es eine Verbindung geben – zu dem Grönlandfahrer. Vielleicht auch zu dem Bauern. Der Grönlandfahrer hatte mit einem Amputierten bei Jakobsen gesessen. Es musste mit dem Teufel zugehen, wenn der und der gesuchte Bauer von Spadenland nicht ein und dieselbe Person waren. An dessen Verwundung war Viktor Malthus – nein, nicht schuldig, aber er hatte sie – irgendwie – veranlasst. Und der Deichdurchstich …
Er zog die Rose hervor, legte sie umgekehrt auf seine flache Hand und hielt sie nah an die Kerze. Er hatte sie schon früher genau betrachtet, natürlich hatte er das, auch die beiden Schnitzer, denen er sie gezeigt hatte. Keinervon ihnen kannte das darin eingeritzte Zeichen. Bisher war es ihm nicht deutlich genug erschienen, jetzt glaubte er in den Kratzern zwei Buchstaben zu erkennen. Und jetzt war keine Zeit mehr, lange zu fackeln. Wenn aber … Schluss mit Wenn und Aber!
Er sprang auf und klatschte in die Hände. Jetzt wusste er den nächsten Schritt. Alles Weitere fand sich dann. Der Kerker würde nicht lange leer bleiben.
«Grabbe!!», brüllte er. «Grabbeeeee!!»
Er würde es schon schaffen, zu Elias Malthus vorzudringen. Und wenn er die Tür einschlagen musste. Und wenn es zehnmal der Tag des Begräbnisses seines Bruders war. Seines so sehr geliebten Bruders.
«Warum gehst du denn nicht zu dem Wundarzt, Anders?» Maline legte ihre Hand auf die Stirn des jungen Mannes und schüttelte den Kopf. «Ich verstehe dich nicht, er hat doch gesagt, du solltest wiederkommen. Du hast wieder Fieber. Sicher kann er etwas dagegen tun.»
Anders hockte mit geschlossenen Augen auf der Kante von Hannes Bett. Seine rechte Hand hielt er schützend vor den zur Hälfte leeren linken Ärmel. «Vielleicht», murmelte er, «morgen.»
«Maline hat Recht», sagte Hanne, «geh, und nicht erst morgen. Morgen ist Sonntag. Ob er da seine Tür aufmacht, ist ungewiss. Ich will nicht, dass es dir ergeht wie Wille.»
«Wenn es wegen der Bezahlung ist …», begann
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