Der Tote im Grandhotel
gewesen und einander für kurze
Zeit näher gekommen als jemals zuvor oder danach.
Damals hatte der Alte noch gelebt. Es war Richard so erschienen, als brächte die räumliche Entfernung von dessen Dunstkreis eine andere, gelöste und heitere Lucie an den Tag.
Eine Lucie, die er so hätte lieben können, wie er es im Grunde
gern wollte.
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Doch der Alte war im Tod stärker, als er im Leben gewesen war.
Vielleicht hatte er sterbend seine Kraft auf seine einzige Tochter übertragen? Seine Kraft und auch seine Unbeugsamkeit?
Lucie war härter geworden, rechthaberisch und humorloser als
früher. Dem Vater ähnlicher.
Trotzdem fühlte sich Richard zuversichtlich, als die Suite bestellt war. Angela hatte rundweg erklärt, sie sei nicht abkömmlich, könne weder ihr Studium noch ihren Golfunterricht unterbrechen.
»Ich werde lieb an dich denken, Mami. Das Geschenk gebe ich
Papa mit. Okay? Du bist doch kein Geburtstagsmütterchen. Ist ja auch total aus der Mode, die Kerzen auszupusten. Okay?«
»Schon gut, mein Kind.«
Eltern hatten Verständnis zu zeigen. Es wäre höchst lächerlich
gewesen, ein erwachsenes Mädchen zu einem Hotelaufenthalt zu
zwingen. Auch ein Luxushotel war nichts Besonderes für Angela.
Richard wäre ein Wochenende in Paris oder Wien lieber gewesen,
weit weg von den Phantomzeichnungen im Fernsehen, von der Be-
richterstattung über ›seinen‹ Fall und den Stand der Ermittlungen.
Aber Lucie mochte keine Großstädte als Reiseziele. Der Trip nach Leipzig war ein Flop gewesen.
Von Britta gab es keine Spur. Das empfand Richard als vorteil-
haft. Zuerst hatte er befürchtet, sie könnte tot aufgefunden werden.
Dann hätte man die Anstrengungen, ihn zu finden, sicher verdop-
pelt. Irgendwann würde Sand über die Sache geweht sein, das hoffte er inständig. Es gab ein Übermaß an Kriminalität in Berlin. ›Front-stadt des Verbrechens‹ hatte kürzlich eine Zeitung getitelt. Vielleicht verlief sich diese Geschichte, wenn andere Verbrechen das Interesse beanspruchten?
Wo war Britta wirklich? Nicht dran denken. Es war die Strafe auf Erden. Dieses verlängerte Wochenende mit Lucie sollte auch eine stille Wiedergutmachung für sie sein. Eine traurige Zärtlichkeit er-füllte ihn, wenn er dachte, was er ihr angetan hatte. Ihre Welt wür-56
de zusammenbrechen. Er hatte ihr stets das Gefühl vermittelt, sie sei die Begehrte, die Gebende in ihrer Beziehung. Sie wußte nichts von seiner Untreue und durfte nie davon erfahren.
Richard fuhr den 600er SL selber. Das Hotel war renoviert und
noch aufwendiger elegant als damals. Ihre Suite hatte einen Alko-ven mit herrlicher Aussicht auf einen Kamin. Der würzige Holzduft in dessen Nähe ließ darauf schließen, daß er an kühlen Abenden
geheizt wurde. Es gab einen Salon und ein Schlafzimmer mit zwei sehr breiten Betten.
Als Richard anbot, auf der Couch zu schlafen – »damit ich dich
nicht störe, Liebes« –, lächelte Lucie und erklärte, sie wolle in diesem unbekannten Gemäuer nachts keinesfalls allein sein.
Er war ihr dankbar. Auch dafür, daß sie keine Veränderung an
ihm bemerkt hatte. Abends gingen sie in die kleine ›Heimatstube‹
zum Essen. Dann holte er ihre Mäntel aus der Suite, und sie wanderten in den nahen kleinen Ort, wo sie in eine Weinstube eintraten, aber sofort wieder die Flucht ergriffen vor Qualm und Lärm.
Ein Halbmond stand am Himmel, als sie zurückgingen. Lucie
strauchelte leicht. Er nahm ihre Hand, und sie ließ sie ihm. Wie lange hatte es solche Vertraulichkeiten zwischen ihnen nicht mehr gegeben? Und hatte das wirklich nur an Lucies kühlem Wesen gelegen und nicht ebenso an seiner wachsenden Gleichgültigkeit?
»Ab morgen werde ich ein altes Weib sein«, scherzte sie.
»Nicht älter als dein spannkräftiger, fescher Gatte. Und bestimmt nicht weniger attraktiv, charmant und weise als er. Dafür aber wesentlich hübscher.«
Sie lachte. »Ein alter Mann kann jederzeit eine junge Frau er-
obern. Alle tuscheln beifällig oder rufen sogar laut Hurra. Umgekehrt ist es lächerlich. Alte Diven mit ihren Pipiknaben wirken doch scheußlich, so billig, und diese Gespielen machen die Damen erst richtig alt. Es ist ungerecht, aber wahr.«
»Dir würde ein junger Mann gut zu Gesicht stehen, Liebes, aber
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du hast nun mal mich am Hals, und ich weiche nicht freiwillig.«
»Dich würde eine jüngere Biene auch gut kleiden. Aber nur über
meine Leiche. Das weißt du, nicht wahr?«
Ihr Ton war plötzlich
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