Der Tote in der Wäschetruhe
schon zu? Dabei haben sie sogar Schilder aufgestellt mit der Warnung: »Betreten verboten« und im gemeinsamen Aufenthaltsraum seinen Stuhl weit weg vom Tisch in die Ecke geschoben. »Du gehörst ins Gefängnis«, musste er sich auch schon anhören. In Fremdfirmen, in denen er Aufträge der Gebäudewirtschaft erledigt, tratschen sie ebenfalls. Die komischen Bewegungen, die Männer mit dem Unterkörper und der Hand machen, wenn er an ihnen vorbei geht, sind ja eindeutig. Sogar eine Fernsehstation soll sich im Wald heimlich niedergelassen haben. Die Fernsehleute wollen ihn beobachten und einen Film drehen. Seine Schwägerin scheint mittlerweile auch zu glauben, dass er ein Homosexueller ist. Die hat einen Brief geschrieben, der nicht einmal abgestempelt war und trotzdem angekommen ist. Statt des Stempels stand die Aufforderung, Altpapier wegzuschaffen und der Spruch: »Manche machen's andersrum.« Das konnte ja nur auf ihn gemünzt sein. Seine Lage erscheint ihm immer aussichtsloser. Wirre Gedanken quälen ihn.
»Hab ich vielleicht wirklich Aids?« Die Frage wird Roland Wassner nicht mehr los, und sie wird in seinem Kopf nach einer Urania-Sendung im Fernsehen zur Gewissheit. Vor kurzem hatte er doch geschwollene Lymphdrüsen, das sind typische Symptome für die tödliche Krankheit, die sich überall in der Welt so rasend schnell ausbreitet und unheilbar ist. Davon war im Urania-Beitrag die Rede, und die müssen es wissen, schließ-lich nennen sie sich Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse.
Wie aber hat er sich angesteckt? Fremdgegangen mit einer anderen Frau ist er nicht, wo er Gunhild doch so liebt. Ungeschützter Sex kommt also nicht in Frage. Roland erinnert sich an einen lange zurückliegenden Krankenhausaufenthalt. Als Zehnjähriger wurde er an der Leiste operiert. Die Bluttransfusionen müssen verseucht gewesen sein. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.
»Bestimmt habe ich auch Gunhild schon angesteckt«, macht er sich schlimme Vorwürfe. Die hustet seit ein paar Tagen so merkwürdig, so wie eine Aids-Kranke.
Roland erzählt seiner Frau von den Ängsten, und dass ihm nur der Selbstmord bleibt. »Du spinnst«, antwortet sie ihrem Mann und sieht ihn voller Sorgen an. »Komm, lass uns morgen zum Arzt gehen«, bittet sie und lässt nicht locker, als sich Roland sträubt. Am nächsten Tag, gleich morgens, sucht das Ehepaar die Arztsprechstunde auf. Für den erfahrenen Allgemeinmediziner ist nach den Schilderungen schnell klar, dass hier nur ein Nervenfacharzt helfen kann. Roland wäre nicht der erste aus der Familie, der an einer Geisteskrankheit leidet. Sein Vater wurde psychiatrisch behandelt, ein Onkel wählte den Freitod. Er greift zum Telefon und vereinbart mit einem ihm bekannten Psychiater für zwei Tage später einen Termin. Gunhild wird krankgeschrieben. Der Arzt rät ihr: »Passen Sie auf Ihren Mann gut auf.« Dem macht er Mut mit den Worten: »Jetzt geht alles klar, jetzt wird alles gut.« Doch der Wahnsinn nimmt seinen verheerenden Lauf.
Roland gerät mit seinen Gedanken in einen Teufelskreis. Überall stößt er auf Misstrauen, üble Nachrede und Ablehnung. »Ich muss mich umbringen«, daran gibt es für ihn angesichts der Ausweglosigkeit seiner Lage keinen Zweifel mehr. Ihm kann keiner mehr helfen. Im Auto liegt schon der Strick bereit für seinen Schlussstrich, doch Gunhild lässt ihn nicht aus den Augen. Er findet einfach keine Gelegenheit, sein Vorhaben zu verwirklichen. Den Tag empfindet er als einziges Chaos. Im Keller will er die Heizung für das Wohnhaus befeuern, doch im Ofen liegen längst die Kohlen. Im Fernsehen sollte am Abend Fußball übertragen werden, doch stattdessen wird ein Film gesendet, in dem die Darsteller telefonieren. Für Roland ist klar: »Jetzt verständigen sie die Polizei. Die soll mich abholen, und ich muss ins Gefängnis.« Eigentümliche Geräusche quälen ihn, pochen unaufhörlich im Kopf. Unruhig läuft der 31-Jährige hin und her: vom Wohnzimmer in die Küche, von da ins Bad, wieder ins Wohnzimmer, zurück in die Küche. Einer Nachbarin, die bei den Wassners am Abend vorbeischaut, fällt das merkwürdige Verhalten von Roland Wassner auf. Ständig hat der den Blick nach unten gerichtet. Er rennt mehrmals in das Kinderzimmer, in dem die Tochter Cindy schlafen soll und deshalb nicht zur Ruhe kommt. Die Besucherin selbst fühlt sich argwöhnisch vom Hausherren beobachtet, wenn sie mit Gunhild ein paar Worte wechselt.
Zehn Minuten nach 8 Uhr
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