Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
aus, die Falten traten stärker hervor. Kleinlaut sagte sie: »Es ist nur wegen … Anna ist weg.« Sie hob den Blick zu Marlen, und Tränen rollten ihr über die Wangen, sie wischte sie nicht weg, schluckte. Marlen erfuhr, daß Anna seit zwei Tagen nicht nach Hause gekommen war, was sie noch nie gemacht hatte, immer hatte sie wenigstens kurz angerufen. Aber diesmal: nichts, kein Lebenszeichen. »Nicht daß es mich sonst beunruhigen würde, aber so …«, schluchzte die Tabakfrau. »Ich kann nur warten, mehr nicht.«
Marlen drückte die Hand der Tabakfrau und spürte den Ring, der sich in diesen weichen, dicken Fingern eingenistet hatte. Sie war versucht, eine der üblichen Beschwichtigungen herunterzuleiern wie »sie kommt schon wieder« oder »was sind schon zwei Tage« oder »machen Sie sich keine Sorgen, mit meiner Tochter ist mir das auch schon mal passiert«. Doch all diese Phrasen kamen ihr lächerlich vor, unaufrichtig, beschönigend, an der Stelle der Tabakfrau wäre sie ebenfalls ernsthaft besorgt. Blieb nur zu hoffen und zu warten.
»Sagen Sie mir Bescheid, wenn sie wieder auftaucht«, sagte Marlen. »Und sagen Sie mir, wenn Sie etwas brauchen. Sie können jederzeit anrufen oder vorbeikommen. Sie wissen ja, wo wir zu finden sind.«
Die Tabakfrau nickte.
14
Mit der Vespa waren es nur gute zehn Minuten zum Vicolo Cinque Santi, wo die LAES ihr Büro hatte. Diesmal war der Rolladen hochgezogen. Ein junger Mann saß vor einem riesigen Büroschreibtisch und ordnete Papiere. Hinter ihm an der Wand befand sich ein Regal voller Aktenordner, rechts der rollbare Gasofen, links die Fensterscheibe. Gut verbarrikadiert, dachte Marlen, als sie den ebenerdigen Raum betrat, Der junge Mann beachtete sie nicht. Sie sah sich um. An einer Wand hingen Schwarzweißaufnahmen, offenbar aus der Hand eines Amateurs, teilweise waren die Bilder unscharf, ungeschickt proportioniert: eine Gruppe von Leuten, ausgerüstet mit starken Lampen, Eispickeln, Seilen, ein Mann mit Taucherausrüstung, Gänge, Höhlen. Es handelte sich sichtlich um Aufnahmen aus der nun berühmt-berüchtigten Stadt unter der Stadt. Auf einem Foto entdeckte Marlen sogar die vermeintlichen Spermatropfen.
» Buon giorno «, sagte sie noch einmal lauter. Der junge Mann, höchstens Anfang zwanzig, sah nun auf, musterte sie stumm.
»Die Fotos hier, gibt es davon noch mehr?« fragte sie.
Der junge Mann nickte.
»Darf ich sie mal sehen?«
Er drehte sich wortlos um und zog zwei Ordner aus dem Regal.
Marlen setzte sich auf einen Klappstuhl in der Ecke und blätterte die Ordner durch. Insgeheim hoffte sie, auf irgendeiner dieser Aufnahmen Salvatore zu entdecken. Auf den wenigsten Fotos waren Menschen zu sehen. Immer wieder Wände, Ecken, Fußböden, Graffitis, Höhlen. Ab und zu waren Höhlenforscher abgebildet, doch zu klein, schemenhafte Figuren mit Taucherbrillen, Helmen mit Stirnlampe, bis zum Bauch im Wasser watend, an eine Wand gelehnt, aus einem winzigen Gang hervorkriechend. Unter anderen Umständen hätten die Details dieses unterirdischen Neapels Marlen brennend interessiert, doch jetzt standen andere Dinge an. Vielleicht würde sie später noch mal auf die Fotos zurückkommen. Sie klappte den Ordner zu.
»Kann ich bei Ihnen auch Material über das unterirdische Neapel bekommen?« fragte sie.
Der junge Mann nickte, zog einen anderen Ordner aus dem Regal und entnahm ihm eine Broschüre, die er Marlen wortlos hinschob.
»Kostet das was?«
»Pressematerial«, sagte er mürrisch und hielt Marlen ein Blatt vor die Nase. »Beitrittserklärung«, sagte er und fügte eine Idee freundlicher hinzu: »Spenden sind immer willkommen.«
»Wird der Verein nicht aus öffentlichen Geldern finanziert?«
»Nein«, lautete die knappe Antwort. Der junge Mann wandte sich wieder seinen Papieren zu.
»Und wie lange gibt es die LAES schon?«
»Elf Jahre.«
»So lange schon…«
Der junge Mann entrang sich ein »Hmm«. Er war offensichtlich nicht zu einem Gespräch aufgelegt.
»Und wie lange sind Sie schon dabei?« Marlen hatte nicht die Absicht, locker zu lassen.
»Hören Sie«, begann er genervt, »ich weiß nicht, von welcher Zeitung Sie nun schon wieder sind, jedenfalls waren heute morgen schon drei Ihrer Kollegen da, und das hier ist kein Informationsservice, und daher kostet jede Auskunft tausend Lire. Fragen Sie also, was Sie wissen wollen, und machen Sie’s kurz, in Ihrem eigenen Interesse.« Er sah sie kampflustig an und klopfte zur Untermalung mit dem
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