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Der Tote vom Strand - Roman

Der Tote vom Strand - Roman

Titel: Der Tote vom Strand - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H kan Nesser
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und der nackte Mann, der in diesem Moment eine Hand ausstreckte und sie auf ihre linke Brust legte, das alles konnte doch nicht Wirklichkeit sein? Eher etwas, das sie sich zusammenträumte, während sie darauf wartete, dass der Wecker einen weiteren regnerischen Dienstag im November einläutete. Das jedenfalls kam ihr doch verdammt noch mal sehr viel wahrscheinlicher vor.
    Allmählich jedoch kam sie zu der Erkenntnis, dass das alles keine Rolle spielte. Sie erinnerte sich wieder an etwas, was der Kommissar — Hauptkommissar Van Veeteren, genauer gesagt, der vor zwei Jahren seinen Schreibtisch bei der Polizei geräumt hatte und seine Tage nunmehr im Antiquariat Krantze in der Kupinski-Gasse verbrachte — einmal über dieses Thema gesagt hatte. Dass es wirklich egal war, ob sich alles in einem Film oder einem Buch abspielte. Oder im wirklichen Leben. Die Bedingungen waren dieselben — wenn auch niemand wusste, welche —, aber dieselben waren sie nun einmal.
    Also streckte sie die Hand aus und ließ sie dort liegen, wo sie gelandet war.
     
    Gegen vier Uhr gingen sie zum Strand und badeten. Dort war natürlich die Hölle los. Sommer, Sonne und Sonntag. Mütter, Väter, Kinder und Hunde. Frisbees, flatternde Drachen, zerfließendes Eis und wilde Bälle. Zwei schwarze Sekunden lang überwältigte sie, während sie sich von der Sonne trocknen ließ, ein heftiger Neid auf dieses zum Kotzen idyllische Familienleben. Auf diese selbstverständlichen und harmonischen Menschen, die in ihren schlichten, gesunden und natürlichen Zusammenhang eingepasst waren.
    Aber diese Stimmung verflog. Den Kopf über ihre Feld-,
Wald-und-Wiesen-Analyse schüttelnd, betrachtete sie Mikael Bau, der sich auf dem Rücken im Sand ausstreckte.
    Wenn ich wirklich in dieser Art Gemeinschaft enden will, dann steht dem doch nichts im Wege, dachte sie. Es gibt nichts, was mich an diesem Schritt hindert.
    Nichts Äußerliches, genauer gesagt. Nur sie selber. Er hatte doch gesagt, dass er sie liebte. Und zwar gleich mehrmals. Sie rutschte ein wenig näher an ihn heran. Schloss die Augen und dachte an ihre Familie.
    An ihre Eltern, mit denen sie einmal im Monat telefonierte. Und die sie einmal im Jahr traf.
    An ihren bisexuellen Bruder in Rom.
    Ihre verlorene Schwester.
    Maud. Verloren in Europas Hinterhöfen. Auf dem Straßenstrich der Großstädte und in der verdreckten Hoffnungslosigkeit der Junkieszenen. In den Betten der Lieferanten. In einer einzigen langen, ekelhaften, abwärts gleitenden Spirale. Sie wusste nicht mehr, wo Maud sich aufhielt.
    Es trafen keine Postkarten mehr ein. Es gab keine Adresse und kein Lebenszeichen. Vielleicht gab es ihre Schwester auch nicht mehr?
    Familie?, dachte sie. Kann man wirklich in einer leben, wenn man über dreißig ist und nie eine gehabt hat? Oder sahen alle Familien mehr oder weniger so aus wie ihre eigene, wenn man sie sich einmal ein wenig genauer ansah?
    Fragen über Fragen, wie immer. Sie hatte sich diese Fragen schon sehr oft gestellt.
    Hatte gefragt und gefragt, aber keine richtige Antwort gefunden. Es war so leicht, alles auf die Leute zu schieben, die für ihre Existenz verantwortlich waren. Sich an Mutter- und Vatermale zu klammern. Viel zu leicht.
    »Wie hieß er doch noch gleich?«
    Mikael Bau fuhr mit der Hand über ihren Bauch.
    »Wer denn?«
    »Der Schleimscheißer.«

    Zielsicher hatte er sie in die Wirklichkeit zurückgeführt.
    »Lampe-Leermann. Franz Lampe-Leermann. Warum fragst du?«
    Langsam füllte er ihren Nabel mit Sand. Ein dünner warmer Strahl weißer warmer Sand rieselte behutsam aus seiner Faust.
    »Weiß nicht so recht. Eifersucht, nehme ich an. Du triffst dich doch alle zwei Tage mit ihm. Will er deshalb nicht alles sofort sagen? Um die Möglichkeit zu haben, Europas schönste Bullin noch öfters zu sehen?«
    Moreno überlegte.
    »Vermutlich«, sagte sie. »Aber da hat er sich geschnitten. Ich werde ihm sagen, dass ich ihn ab morgen auf jeden Fall seinem Schicksal überlasse. Ich werde zum Trost versuchen, ein wenig freundlicher zu sein. Ihm gewisse Versprechungen machen...«
    »O verdammt«, sagte Mikael Bau. »Sag so was nicht. Was hat er übrigens verbrochen?«
    »So gut wie alles«, sagte Moreno. »Er ist fünfundfünfzig und hat mindestens zwanzig von diesen Jahren hinter Gittern verbracht. Aber er kennt Namen. Kinderpornografie. Drogenhandel. Waffen... vielleicht auch Menschenschmuggel. Ja, das ist ein wildes Kuddelmuddel, aber zumindest einen Teil davon können wir

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