Der Tote vom Strand - Roman
Erstaunen gelesen hatte. Das Gefühl der Unwirklichkeit überkam sie wie ein plötzlicher Albtraum.
Arnold Maager. Ihr Vater.
Papa. Sie kostete dieses alte Wort mit dem neuen Inhalt aus und versuchte zugleich, sich seine schmächtige Gestalt noch einmal vor Augen zu führen.
Den etwas schrägen Hals. Den schweren, länglichen Kopf auf dem schmalen Hals. Das Vogelhafte. Die in die Hosentaschen gebohrten Hände und die hochgezogenen Schultern, so als friere er mitten an diesem heißen Sommertag. Und die Distanz... die Distanz zu seiner Tochter, die er die ganze Zeit beibehalten hatte, als sei Körperkontakt gefährlich und verboten.
Sie waren über eine Stunde lang durch den Park gelaufen — hin und her, nebeneinander und einen halben Meter voneinander entfernt. Mindestens einen halben. Waren gegangen und gegangen und gegangen. Erst nach einer Weile hatte sie begriffen, dass sie nicht mehr auf ihn einzureden brauchte.
Nicht zu fragen und nicht zu drohen. Er hatte sich zum Reden entschieden.
In seinem eigenen Tempo. Mit seinen eigenen Worten. Mit Pausen und Abschweifungen und Namen, die sie noch nie gehört hatte. Er hatte immer angespannter gewirkt, je weiter er gekommen war, aber das war natürlich kein Wunder gewesen.
Denn es war keine lustige Geschichte, die er da für seine Tochter in Worte gefasst hatte.
Gar keine lustige Geschichte.
Aber er hatte sie erzählt.
Die Glocke der niedrigen weißen Kirche schlug Viertel vor sieben, als sie den Marktplatz von Lejnice betrat. Drei dumpfe
Schläge jagten eine Taubenschar vor ihren Füßen hoch und wieder zu Boden.
Sie umrundete den ausgetrockneten Springbrunnen und erkundigte sich am Zeitungskiosk nach dem Weg. Sie hatte sich die Adresse schon in der Jugendherberge aus dem Telefonbuch gesucht. Es war nur einen Katzensprung entfernt, wie die verschwitzte Frau asthmatisch erklärte, worauf sie in Richtung Hafen zeigte. Und sehr leicht zu finden.
Sie bedankte sich und ging in die angewiesene Richtung. Denckerstraat in Richtung Meer — eine enge Straße mit alten Holzhäusern, die sich zueinander neigten und die Straße noch schmaler machten. Dann nach links in den Groopsweg, fünfzig Meter oder so. Bis zum Haus vor der Apotheke.
Auf diesen letzten fünfzig Metern geschahen zwei Dinge. Zum einen kam unter einer Zaunlatte eine schwarze Katze hervor und wanderte langsam vor ihr über die Straße.
Zum anderen fiel aus irgendeinem Grund ein Dachziegel vom Dach und schlug drei Meter vor ihr auf den Boden auf. Das passierte nur wenige Sekunden, nachdem die Katze hinter einer anderen Zaunlatte verschwunden war. Eine Frau, die aus der Gegenrichtung kam, stand noch dichter vor dem Niederschlagsplatz und stieß einen Schrei aus, der sie eigentlich mehr erschreckte als der Ziegelstein. Für den Moment jedenfalls.
Lange stand sie dann unschlüssig vor Nummer sechsundzwanzig. Spürte, dass die leichte Brise vom Strand den Duft des Meeres mit sich brachte. Und ein wenig Öl und Oregano aus der Pizzeria an der Ecke. Das Haus — das aktuelle Haus — war ein kleineres Mietshaus mit nur zwei Eingängen und drei Etagen. Typischer Bau aus den siebziger Jahren, mit kleinen, überdachten Balkons zur Straße und vielleicht auch zum Hinterhof.
Ich bin nicht abergläubisch, dachte sie. War ich nie, werde ich niemals sein. Ich glaube nicht an solche albernen Relikte aus einer dunklen Zeit... Hier zitierte sie Kim Wenderbout, wie ihr aufging, ihren wunderbaren Sozialkundelehrer, in den
mindestens die Hälfte ihrer Mitschülerinnen verliebt war. Sie selber auch.
Alberne Relikte? Aus einer dunklen Zeit? Humbug also.
Trotzdem blieb sie stehen. Auf dem Markt schlug die Kirchturmglocke sieben Mal.
Katze und Dachziegel, dachte sie. Ganz natürlich. Sie zählte die Schläge. Brachte es auf acht. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und ging den Weg zurück, den sie gekommen war.
Seltsam, dachte sie, als sie am Sonntagvormittag dann wieder im Bus saß. Warum habe ich das getan?
Eine Katze, die die Straße überquert, und ein Dachziegel, der zu Boden fällt? Das ist doch nicht weiter schlimm.
Sie hatte fast zwölf Stunden lang wie ein Stein geschlafen. War nach ihrer Rückkehr in die Jugendherberge sofort ins Bett gefallen und erst um halb zehn wieder aufgewacht, als einer der Däninnen eine Schüssel auf den Boden gefallen war.
Sie hatte geduscht und bezahlt und gerade noch den Bus um zwanzig nach zehn erwischt. Ihr Frühstück: eine Birne und ein Glas Birnenlimonade.
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