Der Tote vom Strand - Roman
Aussichtsfenster mit Blick aufs Meer. Sicher eine Million wert, dachte Moreno. Vor allem, wenn man an Lage und Garten denkt. Die breite Rasenfläche war frisch gemäht, Beete, Büsche und Obstbäume sorgfältig beschnitten, und die vielen Gartenmöbel unter dem Sonnenschirm hätten erst vor
zwei Stunden aus der Tischlerei geliefert worden sein können.
Rektor Salnecki saß in einem dieser bequemen Sessel und schien beträchtlich mehr Zeit auf dem Buckel zu haben.
Weiße Hose, weißes Hemd, weiße Baumwolljacke. Sportliche gelbe Schirmmütze und blaue Freizeitschuhe. Aber das alles half nichts. Er sah älter aus als die knorrigen Apfelbäume. Dem bleibt nicht mehr lange, dachte Moreno. Das wird wohl sein letzter Sommer sein. Hoffentlich ist er noch klar im Kopf.
Das war er.
Sogar ungewöhnlich klar, davon konnte sie sich sehr bald überzeugen. Nur ein kurzer Wortwechsel war dazu nötig. Eine jüngere, blonde und sonnengebräunte Frau brachte ein Tablett mit Karaffen und Gläsern. Und mit einer Schale Kanapees.
»Rot und weiß«, erklärte Rektor Salnecki und schenkte ein.
»Leben und Tod, dargestellt von schwarzen Johannisbeeren und Riesling. Ich brauche wohl nicht darauf hinzuweisen, dass Weiß in ziemlich vielen Kulturen die Farbe des Todes ist. Prost und willkommen.«
»Prost«, sagte Moreno. »Vielen Dank, dass Sie mich empfangen haben.«
»Meine Großnichte ...« Er nickte zu der Frau hinüber, die gerade um die Ecke bog. »Kümmert sich um mich. Schreibt eine Examensarbeit über die Klimkegruppe und nutzt dafür meine Bibliothek. Sylvia, nettes Mädchen, gut wie Gold ... meine Frau ist vor ein paar Jahren verstorben, und ich brauche inzwischen doch Hilfe ... aber erzählen Sie, worum geht es eigentlich?«
Ewa Moreno stellte ihr Glas auf den Tisch und ließ sich zurücksinken.
»Maager«, sagte sie. »Arnold Maager. Sie waren doch noch Rektor der Voellerschule, als es passiert ist, oder nicht?«
»Das dachte ich mir schon«, sagte Salnecki.
»Das dachten Sie sich schon? Wie meinen Sie das?«
»Dass Sie über diesen Fall sprechen wollen. Verstehen Sie,
ich habe mein Leben lang in der Schule gearbeitet, und sicher ist es auch zu einigen kleineren Unregelmäßigkeiten gekommen, aber wenn eine Kriminalbeamtin mitten in ihrem Urlaub um ein Gespräch bittet, dann kann ich doch nur einen Schluss ziehen. Es ist keine schöne Geschichte, dieser Fall Maager.«
»Das habe ich schon begriffen«, sagte Moreno.
»Warum wollen Sie ihn dann wieder aufwühlen? Wäre es nicht besser, die Sache ruhen zu lassen?«
»Vielleicht«, sagte Moreno. »Aber inzwischen sind gewisse Umstände ans Licht gekommen.«
Salnecki lachte.
»Ans Licht? Du meine Güte. Sie hören sich eher wie eine Anwältin an, wenn Sie entschuldigen. Aber egal, mir ist schon klar, dass Diskretion eine Tugend sein kann, und meine natürliche Neugier hat mit den Jahren auch nachgelassen ... ich weiß nicht, ob das ein Grund zur Freude oder zur Trauer ist ... aber ich rede sowieso zu viel. Was möchten Sie also wissen?«
Moreno unterdrückte ein Lächeln.
»Was damals passiert ist«, sagte sie. »Wie Sie Maager gesehen haben und überhaupt.«
»Sie sind über die Geschichte nicht im Bilde?«
»Nur sehr wenig«, gab Moreno zu.
Rektor Salnecki leerte sein Glas und stellte es energisch auf den Tisch zurück.
»Eine Tragödie«, sagte er. »Ganz einfach. Und zugleich eine so verdammt banale Geschichte. Maager war ein guter Lehrer. Kollegen und Schüler schätzten ihn. Er war jung und schien eine große Zukunft zu haben ... und dann steigt er mit dieser kleinen Nuss ins Bett. Man muss mit pubertären Mädchen und ihren Hormonen umgehen können, das lernt ein Lehrer normalerweise als Erstes.«
»Er ist nicht nur mit ihr ins Bett gestiegen«, sagte Moreno. »Wenn ich das richtig verstanden habe.«
Salnecki schüttelte den Kopf und machte ein düsteres Gesicht.
»Nein. Aber das eine hat eben zum anderen geführt. In gewisser Hinsicht ist es eine lehrreiche Geschichte ... man muss immer einen Preis bezahlen.«
Moreno hob die Augenbrauen.
»Meinen Sie, dass Maager den Preis bezahlt hat? Man könnte ja denken, dass das Mädchen auch nicht ganz billig davongekommen ist ...«
»Natürlich«, gab Salnecki bereitwillig zu. »Natürlich. Das macht alles doch zu einer Tragödie. Für einen nachlässigen Moment müssen alle bezahlen. Die einen mit ihrem Leben, die anderen mit ihrem Verstand ... man hat manchmal das Gefühl, dass die Götter es
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