Der Toten tiefes Schweigen
Knochen, war durchsichtig und bleich wie Sterbende. Ihre Finger auf den Armlehnen waren elfenbeinfarbene Knochen, umwoben von Adern wie von blauen Fäden. Ihre großen Augen lagen in tief eingesunkenen Höhlen.
»Freu dich nicht«, sagte sie und sah Cat durchdringend an. »Brüste dich nicht, dass du gewonnen hast.«
Cat zog einen Stuhl heran. »Du denkst ziemlich schlecht von mir. Das tut mir leid.«
Plötzlich traten Karin Tränen in die Augen, und sie schüttelte vehement den Kopf.
Cat ergriff ihre Hand. Fast gewichtlos lag sie in der ihren. »Hör zu – alles schlägt fehl. Früher oder später. Alles. Wir wissen nicht annähernd so viel, wie wir vorgeben. Du hast getan, woran du geglaubt hast, und es hat dir Zeit geschenkt – noch dazu gute Zeit, keine Zeit, in der du dich mit Nebenwirkungen herumschlägst, keine Zeit ohne Haare und mit Übelkeit und Erschöpfung oder Erholung von einer größeren Operation. Du hattest den Mut, das Orthodoxe abzulehnen. Und für dich hat das eine geraume Weile funktioniert. Womit sollte ich mich also brüsten? Du hättest eine OP , Chemotherapie und Bestrahlung durchmachen und in sechs Monaten tot sein können. Eine Garantie gibt es nicht.«
Karin lächelte leicht. »Danke. Aber es
ist
fehlgeschlagen. Ich bin wütend darüber, Cat. Ich habe geglaubt, wirklich und wahrhaftig geglaubt, dass es mich endgültig heilen würde. Daran habe ich mehr geglaubt als an alles andere bisher, und es hat mich im Stich gelassen. Es hat mich belogen. Sie haben gelogen.«
»Nein.«
»Ich sterbe trotzdem – und ich wollte nicht sterben. Ich wollte gesund bleiben. Ich dachte, ich hätte gesiegt. Deshalb fühle ich mich auf ganzer Linie betrogen, und wenn mich jemand fragte, ob er den Weg einschlagen solle, den ich gegangen bin, dann würde ich sagen, nein, nein, mach dir nicht die Mühe. Verschwende weder dein Geld noch deine Energie noch deinen Glauben. Glaube an nichts. Das taugt alles nichts.«
Die Tränen spritzten auf Cats Hand, und nun beugte Karin sich vor und ließ sich umarmen.
Niemand kommt an sie ran. Vielleicht haben Sie ja Glück, hatte Lois gesagt.
Karins zerbrechlicher Körper schüttelte sich in einem Weinkrampf. Cat sagte nichts. Es gab nichts zu sagen. Sie hielt sie einfach in den Armen und ließ sie Tränen der Schwäche und des Schmerzes, der Enttäuschung und Angst vergießen.
Es dauerte lange.
Am Ende half Cat ihr ins Bett und schickte eine SMS nach Hause, holte Tee für sie beide, und als sie zurückkam, fand sie Karin liegend vor, weiß wie Leinen auf ihren hochgestellten Kissen, erschöpft, aber ruhig.
»Warst du mit Mike in Kontakt?«
Karins Mund wurde hart. »Nein.«
»Vielleicht würde er es gern wissen?«
»Das ist mir gleich. Ich habe das alles hinter mir gelassen.«
»Okay. Du musst es wissen.«
»Es gibt …« Karin zögerte. »Ich möchte darüber sprechen. Über das Sterben.«
»Mit mir?«
»Weißt du, was aus Jane Fitzroy geworden ist?«
Jane war Seelsorgerin für Imogen House und Pfarrerin in der Kathedrale gewesen.
»Nein, aber ich kann es herausfinden. Sie ist in ein Kloster gegangen. Ich hatte eine Adresse, bevor wir nach Sydney aufgebrochen sind. Wenn sie nicht mehr da ist, wissen die wahrscheinlich, wohin sie gezogen ist.«
Simon könnte es wissen, dachte sie, sagte es aber nicht.
»Ich mochte Jane. Mit ihr könnte ich reden.«
»Ich tue, was ich kann.«
»Ich werde versuchen, nicht vorher zu sterben.«
Cat stand auf. »Willst du, dass ich dich wieder besuche?«
»Wenn du Jane mitbringen kannst.«
»Und wenn nicht?«
Karin wandte den Kopf ab.
Kurz darauf ging Cat leise aus dem Zimmer, ohne noch etwas gesagt oder Karin berührt zu haben. Ihr Handy brummte, sie hatte eine SMS erhalten, als sie über den Innenhof ging.
Fühle mich scheiße, geh ins Bett.
Si ist hier, völlig außer sich. Beeil dich. Kuss.
[home]
Siebzehn
Z ehn nach sechs. In diesem Teil der Stadt ist es ruhig. Büros geschlossen. Geschäfte zu. Und das
Seven Aces
macht erst um acht auf. Jede Menge Zeit.
Richtig geplant. Perfekt berechnet.
Der Boden des alten Kornspeichers sah nicht vertrauenerweckend aus, doch er war zweimal hier oben gewesen, und alles war besser, als er erwartet hatte. Er war über die Balken und Bretter gegangen. Prüfend. Holzwürmer gab es. Staub flog auf. Doch er würde unter seinem Gewicht nicht nachgeben.
Die Abendsonne hatte ihn aufgewärmt. Stroh und weiße Spritzer kennzeichneten die Stellen, an denen die Schwalben im
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