Der Totengarten
Markierungslinien unter einem Basketballkorb demonstrierte ein Officer in Uniform einer großen Gruppe Rekruten die richtige Haltung beim Fauststoß. Seine linke Hand schnellte nach oben, um das Gesicht zu schützen, während er mit der rechten den Schlag ausführte, sich dabei in der Hüfte drehte und mit dem hinteren Fuß abdrückte. Anschließend versuchte die Gruppe, sein Manöver zu imitieren.
»Es ist noch gar nicht so lange her, dass wir da unten gestanden haben«, sagte Rhonda.
»Was da jetzt nachrückt, sind besser qualifizierte Polizisten. Die nehmen nur noch Leute mit zweijähriger College-Ausbildung.«
»Damit wäre ich schon mal draußen gewesen. Und weißt du, da wäre ihnen ein guter Cop entgangen.«
»Immerhin wird so verhindert, dass Schwachköpfe in die Truppe kommen.«
»Gus, irgendwann lernst auch du noch die korrekte Ausdrucksweise unseres neuen Jahrhunderts.«
»Okay, dann eben Leute mit mentalen Defiziten.«
»Siehst du die weißen Mädchen da unten?« Rhonda wies mit einer Kopfbewegung auf die zahlreichen Rekrutinnen in der Halle. »Wenn sie die raus auf die Straße schicken, werfen die meisten nach zwei Wochen das Handtuch oder flüchten sich hinter einen Schreibtisch.«
»Warum fängst du jetzt damit an?«
»Du kennst doch die Blonde, die immer im Fernsehen ist, diese Sprecherin? Die war nie in einem der heißen Bezirke auf Streife und hat es trotzdem zum Lieutenant gebracht. Sie hat sich einen Namen gemacht, indem sie die Mittelklasse-Bleichgesichter vor den Negern beschützt hat, die in Shaw auf den Bürgersteigen rumhängen. Das MPD befördert sie einfach immer weiter, weil sich ihr Porzellanteint und die blonden Haare vor der Kamera so gut machen.«
»Rhonda.«
»Na, stimmt doch.«
»Meine Mutter ist auch weiß.«
»Sie ist Italienerin. Und du weißt, dass ich recht habe.«
»Ich muss schnell mit diesem Burschen reden«, sagte Ramone, als der Ausbilder seine Rekruten entließ.
»Ich warte unten auf dich.«
Ramone stieg die Treppe hinunter. Er kam an der Tür zum Schwimmbad vorbei, und wie jedes Mal, wenn er hier entlangging, spulte sich auch diesmal in seinem Kopf derselbe Film aus seinem ersten Jahr bei der Truppe ab. Durch ebendiesen Türrahmen hatte er damals zum ersten Mal Regina gesehen, die gerade in ihrem blauen Badeanzug am Beckenrand stand, den Blick auf das Wasser gerichtet, und sich zum Sprung bereitmachte. Ihr Anblick, muskulös, aber durch und durch weiblich, mit wohlgeformtem Po und festen, straffen Brüsten, hatte ihn buchstäblich auf der Stelle erstarren lassen. Ramone war weder besonders geschickt darin, Kontakt zum anderen Geschlecht aufzunehmen, noch machte sein Aussehen den Mangel an Redegewandtheit wett. Diesmal aber ging er schnurstracks zum Beckenrand, stellte sich vor und gab ihr die Hand. Hoffentlich ist sie so nett, wie sie schön ist, dachte er, während er ihre weichen Finger ergriff. Ihre großen braunen Augen verzogen sich beim Lächeln ein wenig, und, bei Gott, da wusste er es.
Sie blieb nicht lange Polizistin. Sechs Monate Ausbildung, ein Monat Einarbeitung an der Seite eines erfahreneren Kollegen, dann ein Jahr auf Streife, und Regina hatte genug. Sie selbst sagte später, bereits nach einer Woche auf der Straße sei ihr klar gewesen, dass das nichts für sie war. Sie wollte Menschen helfen und nicht einsperren. Also ging sie noch einmal aufs College und unterrichtete danach ein paar Jahre lang an der Drew Elementary im äußeren Northeast. Als Diego zur Welt kam, änderte sie ihr Leben erneut; sie wurde Vollzeitmutter und arbeitete nebenher ehrenamtlich an der Schule. Wenn Ramone betete, dankte er manchmal dem Herrn für Reginas Fehlentscheidung, zum MPD zu gehen. Ramone wusste, wenn er nicht an jenem Tag diese Treppe hinuntergegangen und an dieser Tür vorbeigekommen wäre und wenn sie nicht gerade zu diesem Kopfsprung angesetzt hätte, dann hätte er nicht, was er heute hatte. Und ihm bedeutete das, was er hatte, alles. Was nicht hieß, dass er nicht dazu in der Lage gewesen wäre, sich selbst alles zu ruinieren.
Das Seltsame war: Er hatte eigentlich nie vorgehabt zu heiraten und eine Familie zu gründen. Aber es war nun einmal so gekommen, und es war gut so. Das alles, weil er an einem bestimmten Nachmittag einen bestimmten Weg gegangen war und eine Frau zögerte, bevor sie in ein Schwimmbecken sprang. Wie die meisten Menschen hatte Ramone manchmal seine Zweifel, was die Existenz einer höheren Macht betraf, aber an das Schicksal
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