Der Totenmeister: Thriller (German Edition)
gewesen, die Unterhaltung höflich und allgemein, Sandra selbst unnahbar und distanziert. Dabei hatte sie den ersten Schritt getan. Beide Male hatte sie ihn angerufen und Ort und Zeit festgelegt. Beide Male war er ganz aufgeregt zu den Treffen erschienen, wie damals in der Schule, als der kleine Außenseiter, der ein Date mit der hübschesten Chearleaderin von allen hatte – und war am Ende jedes Mal verunsichert gewesen, ob sie mehr für ihn empfand als pure Neugier. Eine ungewohnte Lage, in der er sich da plötzlich wiedergefunden hatte, verletzlich und verwundbar wie seit seiner Jugend nicht mehr.
»Ich dachte, Sie wollen nicht, dass ich Ihnen die Karten lese«, antwortete Phyllis und räumte die Karten beiseite.
»Na, eher nicht«, sagte Max. »Also, wie viele unterschiedliche Tarotblätter gibt es?«
»Zahllose. Ich benutze das so genannte Rider-Waite-Tarot, wahrscheinlich das bekannteste und am weitesten verbreitete, weil es so einfach ist, aber es gibt buchstäblich Hunderte unterschiedlicher Ausführungen. Man bekommt sie mit amerikanischen Ureinwohnern drauf, mit Krähen, Katzen, Hunden, Vampiren, Comic-Superhelden, alten Filmstars, Baseballspielern – was Sie wollen. Die basieren alle auf dem Rider-Waite-Tarot. Aber es gibt ein paar Ausnahmen. Schon mal von Aleister Crowley gehört?«
»Dem Satanisten?«
»Genau dem. Er hat ein Blatt entworfen, das Thoth-Tarot heißt und in dem er viele ägyptische Symbole verwendet. Dann gibt es noch das Golden-Dawn-Tarot, das Lebensbaum-Tarot und das Kosmische Tarot, die alle auf unterschiedliche Art und Weise gelesen werden.«
Max zog drei Schwarzweißfotos von den Schnipseln aus der Tasche, die in Preval Lacours Magen gefunden worden waren und die die Rechtsmedizinerin zusammengefügt hatte.
»Haben Sie die schon mal gesehen?« Max reichte ihr die Fotos.
Phyllis warf einen sehr kurzen Blick darauf.
»O Gott! Die stammt aus dem De-Villeneuve-Deck!« Sie war regelrecht atemlos vor Schreck. »Wo haben Sie die gefunden? Und warum ist sie zerschnitten worden?«
»Sie wurde im Magen eines Menschen gefunden.«
»Der hat die gegessen ?«
»Entweder das, oder sie wurde ihm zwangsweise zugeführt. Wir wissen es noch nicht.«
»Diese Karten sind sehr selten. Sehr exklusiv. Und sehr teuer.«
»Wie teuer?«
»Fünftausend pro Deck, soweit ich gehört habe, aber das ist schon ein paar Jahre her. Sie sind nicht leicht zu kriegen. Sie werden nur einmal pro Jahr hergestellt, in der Schweiz. Auf Bestellung. Gegen Vorkasse.«
»Was ist denn so besonders daran, abgesehen vom Preis? Warum fehlt das Gesicht?«
»Alle Gesichter fehlen. Das ist einer der Faktoren, die sie so einzigartig machen. Nicht jeder kann diese Karten verwenden. Nur ganz bestimmte Menschen.«
»Wer zum Beispiel?«
»Menschen mit … mit einem sehr besonderen Talent.«
»Können Sie es?«
»Ich würde die nicht mit der Kneifzange anfassen«, sagte Phyllis.
»Warum nicht?«
»Haben Sie mal von einer Frau namens Kathleen Reveaux gehört?«
»Nein.«
»Sie war eine bekannte Kartenleserin, regelrecht berühmt sogar. Sie war ein paar Mal im Fernsehen und hat Nixons Rücktritt korrekt vorhergesagt, genau wie die Niederlage in Vietnam und das Attentat auf Ford. Ich habe sie sehr gut gekannt. Sie hat bei einer Auktion in New York ein De-Villeneuve-Blatt ersteigert. Als sie die Karten lesen wollte, sind die Bilder plötzlich feindselig geworden.«
»Wie meinen Sie das?«
»Sie sagte, sie hätte Monster gesehen, Bestien mit blutroten Augen und weißen Fangzähnen. Ich habe ihr geraten, die Karten auf der Stelle zu verbrennen. Aber sie hatte auch eine sture, eigensinnige Seite und hat sie behalten.«
Phyllis schwieg, Tränen traten ihr in die Augen. Sie nahm die Brille ab und tupfte sie mit einem Taschentuch trocken.
»Was ist mit ihr passiert? Wenn Sie es erzählen wollen«, sagte Max.
»Sie hat sich das Leben genommen. Ist vom Freedom Tower gesprungen. Haben Sie nichts davon gehört?«
»War das 1978?«
»Ja«, flüsterte Phyllis.
»Doch, ich habe von ihr gehört«, sagte Max. Er erinnerte sich an den Vorfall, wenn auch nur vage. Es war ein spektakulärer Selbstmord gewesen, vor allem wegen des Ortes, aber dennoch ein Selbstmord. Eine geistig verwirrte Frau, die allein in den Tod gegangen war. Eine Abwechslung zu den beiden zu jener Zeit häufigsten Todesarten in Miami – entweder Kokain-Cowboys, die sich gegenseitig umbrachten sowie alle, die zwischen die Fronten gerieten, oder Rentner in South
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