Der Totenmeister: Thriller (German Edition)
Verwandte mitgenommen werden sollten. Und am gestrigen Abend dann war ein vierzigjähriger Taxifahrer namens Evans Ducolas auf dem Rücksitz eines Streifenwagens an einem Herzinfarkt gestorben, nachdem er als vermeintlich Illegaler festgenommen worden war. Es stellte sich heraus, dass Ducolas mitnichten illegal war: Einen Monat zuvor hatte er seine Green Card erhalten. Mehrere Stadtteilpolitiker hatten für diesen Nachmittag Demonstrationen angekündigt.
»Ich habe gehört, Boukman hat die Frau von einem Polizisten entführt und den Bullen übel zugerichtet. Das warst nicht du, oder?«
»Nein, nein«, sagte Max. »Ich hatte eine Auseinandersetzung mit meinem Friseur, bin die Treppe runtergefallen und habe mich beim Rasieren geschnitten. Alles auf einmal.«
»Womit rasierst du dich? Mit Rotorblättern?« Drake lachte.
78
»Warum um alles in der Welt versteckt er sich ausgerechnet hier? Ihm muss doch klar sein, dass wir hier als Erstes nach ihm suchen«, sagte Max, als sie langsam um die rot gedeckten Häuser der Edison Courts zwischen North West 62nd und 67th Street kurvten.
»Vielleicht ist er blöd«, sagte Joe.
»Er ist nicht blöd.«
»Meinst du, er ist einer von denen, die geschnappt werden wollen?«
»Nein.« Max schüttelte den Kopf. »Wenn der gefasst werden wollte, würde er mit erhobenen Händen in die MTF marschieren. Wenn er wirklich hier ist, dann aus einem bestimmten Grund.«
Eine Stunde, bevor sie losgefahren waren, hatte ein heftiger, wolkenbruchartiger Sommerregen eingesetzt, aber jetzt schien wieder die Sonne, intensiv und gleißend, und verdampfte das Wasser zu einem feinen Nebel, der über dem Asphalt hing, ein Schleier in Regenbogenfarben.
Viele Menschen waren auf den Straßen, sie strömten aus ihren Häusern zu der Kundgebung, die sich auf der North West 54th sammelte. Viele blieben stehen, um in den schwarzen Chevy Monte Carlo zu schauen, in dem Max und Joe saßen, die sie auf Anhieb als Polizisten erkannten, und die kollektive Neugier schlug in Besorgnis und Feindseligkeit um.
Bisher hatten sie wenig Erfolg damit gehabt, wahllos Passanten zu fragen, ob sie Boukman gesehen hätten. Sie hatten lediglich ausdruckslose Blicke geerntet und Kopfschütteln, immer wieder entschiedenes »Nein« und unumwundenes »Fickt euch« gehört.
»Weißt du, woran mich das erinnert?«, fragte Max.
»Klar.«
Liberty City vor einem Jahr, kurz vor Bekanntgabe des Freispruchs, der ganze Stadtteil abgeriegelt, während die Bewohner – die längst mit einem Sieg der Ungerechtigkeit rechneten – sich zum Aufstand rüsteten. Jetzt lag die gleiche geladene Stille in der Luft, die gleiche Wut, die nur noch den geringsten Auslöser brauchte, um zu explodieren.
Max und Joe trugen kugelsichere Westen, Max hatte zwei geladene Remington-Kampfflinten auf dem Schoß liegen. Die Polizei war in Alarmbereitschaft, über dem Viertel kreiste ein Hubschrauber.
»Ich kann es denen nicht verübeln«, sagte Joe. »Die Haitianer hatten in dieser Stadt von Anfang an ihren Ruf weg. Die Kubaner fischen wir aus dem Wasser, reichen ihnen eine Leine und ein Handtuch, geben ihnen einen Klaps auf die Schulter und eine Green Card. Und die Haitianer, die werden postwendend wieder zurückgeschickt. Richtig ist das nicht. Und fair auch nicht. Die Haitianer haben es in ihrer Heimat genauso schwer, wenn nicht schwerer als die Menschen in Kuba. Nur dass Baby Doc ein faschistischer und kein kommunistischer Diktator ist und deshalb von unserer Regierung gestützt wird. Und weißt du, warum es erst recht daneben ist, wie wir die Haitianer behandeln? Haiti hat Amerika im Unabhängigkeitskrieg zur Seite gestanden.«
»Echt?«
»Wirklich wahr.«
»Woher weißt du das?«
»Hab’s gelesen.« Joe sah ihn an. »Du solltest auch mal was lesen, Max. Allgemeinbildung und so. Das sind alles deine Leute da draußen – unsere Leute, alle hier in der Stadt. Wir haben für die alle unterschrieben. Man muss wissen, wo sie herkommen, um zu wissen, was sie hinter sich haben.«
»Du redest wie Sandra.« Max seufzte.
»Du meinst, klug und gebildet?«
»Ich meine: Geh mir nicht auf den Sack.«
»Aber sie hat recht. Du bist ja nicht dumm, aber du weißt über nichts Bescheid. Wenn Ahnungslosigkeit glücklich machen würde, müsstest du ungefähr der glücklichste Mensch sein, den ich kenne.«
Im Eisenwarengeschäft Leogane auf der North East 2nd Avenue lagen zwei tote Männer. Der erste – in Khakihosen und weißem T-Shirt – lag in der
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